Die schreibende Hand am Ort ihres Schreibens

Amos Oz verknüpft Autobiografie mit Familien- und Staatsgeschichte

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hatte die Theorie der immanenten Textinterpretation die Parallelisierung von Leben und Werk eines Autors für unzulässig erklärt, so hatten die postmodernen Mischgattungen die Interaktion zwischen Fakten und Fiktionen geradezu zum Gestaltungsprinzip gemacht. In Tatsachenromanen, Erfahrungsberichten und Romanautobiografien funktionierten die Dichter die Wirklichkeit zur Literatur und das Leben zur Romanhandlung um, und während sie durch realistisches Erzählen die Verwechslung von Leben und Werk regelrecht förderten, warnten sie zugleich durch die Offenlegung der Fiktionsleistung vor der Realismusfalle. Denn realistisch ist nicht real - Dichter seien weniger an Realität als an Wahrheit interessiert, meinte William Faulkner. Der Wahrheitsanspruch und das Verhältnis zwischen Erlebtem und Erdachtem sind in einer Autobiografie besonders prekär, weil darin eine Lebensgeschichte entworfen wird, die, obwohl sie sich an einem Gerüst von Fakten orientiert, dennoch auf der Fiktion eines kohärenten Handlungsverlaufs basiert. Eine Lebensgeschichte, so der Literaturwissenschaftler Paul DeMan, ist kein Leben, sondern eine Geschichte.

"Jede Geschichte, die ich geschrieben habe, war autobiographisch", erklärt der Erzähler Amos Oz schon kurz nach Beginn seines neuen Romans und wehrt sich zugleich gegen jeden direkten Bezug der fiktionalen Geschehnisse auf die Realität. Autobiografisch seien seine Geschichten insofern, als darin Elemente aus der Realität zum literarischen Vorwurf gemacht werden - die Realität diene als Sprungbrett zur Literatur, aber die Literatur schaffe ihre eigene Realität. Nur der "schlechte Leser", der also der Wahrheit der Literatur nicht traue, frage mit voyeuristischer Neugierde nach der "Geschichte hinter der Geschichte." Der "gute Leser" dagegen folge dem Autor in die fiktionale Welt und entdecke sie für sich: "Der Raum, den sich der gute Leser bei der Lektüre erschließt, ist nicht der zwischen Text und Autor, sondern der zwischen dem Text und ihm selbst."

Während Amos Oz in den frühen Romanen und Erzählungen diesen Raum zwischen Text und Leser leicht zugänglich machte, indem er sich an Regeln des realistischen Erzählens hielt, baute er in den späteren, psychologischen Romanen komplizierte narrative Architekturen, in denen der Leser auf einen labyrinthischen Weg geführt wurde. Nachdem er in "Allein das Meer" die Schraube des Realitätsspiels weiter gedreht hatte, indem er den Erzähler als Romanfigur auftreten ließ, treibt Oz nun das Verhältnis zwischen der Realität der Fiktion, die er entwirft, und der Fiktion der Realität, aus der er schöpft, auf einen prekären Höhepunkt: er rekonstruiert die Lebensläufe seiner Eltern und Großeltern als ein breitangelegtes Panorama des jüdischen Lebens in Osteuropa, in Palästina und in Israel; zeichnet ein Selbstporträt des Schriftstellers als jungen Mannes; bezieht systematisch das geschriebene Werk auf das eigene Leben - und nennt dieses narrative Konstrukt "Roman."

Oz fügt Ereignisse aus seiner Kindheit zusammen, die er im Jerusalem der 1940er-Jahre verbracht hat; Anekdoten über seine Verwandte und über Freunde seiner Eltern, die alle der ashkenazischen Intelligenzia angehörten; Überlegungen zur politischen Lage gegen Ende der britischen Mandatszeit in Palästina und nach der Gründung des Staates Israel; und Reflexionen über die Klassiker hebräischer Literatur wie Samuel Agnon und Chaim Nachman Bialik, an denen er sich sprachlich geschult hat, zu einer invertierten Entwicklungsgeschichte über einen Jungen, der aus der Großtadt aufs Land zog und aus dem bildungsbürgerlichen Milieu seiner Familie ausscherte, um ein einfaches naturverbundenes Leben zu führen.

Der zentrifugale Punkt dieser Entwicklungsgeschichte ist der Selbstmord der Mutter, der den Jungen seinem Vater und der Familie entfremdet. Tatsächlich hatte das Emigrantenkind Amos Klausner als Fünfzehnjähriger Jerusalem und die Familie von Dichtern und Gelehrten verlassen und sich in einem Kibbuz als Amos Oz neu erfunden - Oz bedeutet auf Hebräisch 'Kraft'. Der Abkömmling blasser Emigranten, die ihr intellektuelles Gepäck nie ablegen konnten und von Europanostalgie geplagt waren, wurde zum sonnengebräunten Israeli, der Traktor fuhr und Soldat wurde. Dem kräftigen Kibbuznik gelang es, aus seiner europäischen Herkunft eine israelische Identität zu formen und die ererbte europäische Vergangenheit mit der israelischen Gegenwart zu versöhnen - und zugleich die geistig-literarische Tradition der Familie weiter zu führen, indem er Schriftsteller wurde. In der scheinbaren Banalität des Kibbuzalltags, in der israelischen Gegenwart überhaupt erkannte er ein unverbrauchtes literarisches Motiv: Aus der unmittelbaren, konkreten Realität schreibend eine allgemeingültige, abstrakte Welt zu entwerfen, im Lokalen das Universelle auszumachen, wurde sein Ziel. Er begriff, dass "die geschriebene Welt [...] immer um die schreibende Hand am Ort ihres Schreibens kreist." Die Darstellung dieser Welt- und Selbst(er)findung, die mit der Entstehung Israels parallel verläuft, ist der autobiografische Rahmen des Romans von Amos Oz.

Innerhalb dieses Rahmens schlägt Oz große narrative Bögen zu den politischen und sozialen Umständen, die seine Großeltern und Eltern zur Einwanderung nach Palästina bewogen hatte, und zeigt, dass ihre Entscheidung weniger von zionistischem Ethos als von Überlebenswillen geprägt wurde und dass in Palästina und in dem dann neugegründeten israelischen Staat das Leben wiederum zum Überleben wurde. "In Vaters Jugendzeit stand an jeder Wand in Europa: 'Juden, ab nach Palästina'", wiederholt der Erzähler refrainartig. "Fünfzig Jahre später, als mein Vater Europa wieder besuchte, schrie es von allen Wänden: 'Juden, raus aus Palästina.'" Führten der europäische Antisemitismus und der Mord an den Juden zur Emigration nach Palästina und zur israelischen Staatsgründung, lag in dieser wiederum die immanente Quelle des israelisch-palästinensischen Konflikts. "Ich erzähle in dem Buch nicht nur von meiner Familie", erklärte Amos Oz einmal in einem Interview, "sondern auch vom jüdisch-arabischen Konflikt als einem Zusammenstoß von richtig und richtig. Manchmal leider auch von falsch und falsch. Beide haben recht und manchmal auch unrecht."

Oz, der Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung und Mitverfasser des Nahostfriedensabkommens von Genf ist, verwebt die Familiengeschichte mit der Staatsgeschichte, das Individuelle seiner Biografie mit dem Allgemeinen seines Landes.

Auf diesem engmaschigen Gewebe aus Ereignissen, Daten und Namen und ihrer literarischen Reflexion basiert die Realismusfalle dieses Romans. Denn aus der realen Geschichte seiner Kindheit und Jugend, die er in kraftvollen Linien skizziert, destilliert Amos Oz eine dramatische Geschichte von Entfremdung, emotionaler Gefährdung und Selbstrettung, die er auch sprachlich pointiert: Wie das subtile, aber unsichere Emigrantenhebräisch der Gründergeneration zur Alltagssprache und zur Literatursprache wird, ist ein implizierter Handlungsfaden, mit dem die verschiedenen Erzählschichten immer wieder zusammen genäht werden. Obwohl er keiner strengen Chronologie folgt, sondern das Geschehen in weiten Zeitkurven vorantreibt, fördert Oz die Verwechslung zwischen Werk und Leben, wenn er als Erzähler zur Erzählerfigur wird und wenn er vorgibt, in Realzeit zu schreiben. "Ein unfertiges Kapitel dieses Buches hier erwartet mich auf meinem Tisch in einem Wust vollgekritzelter Entwürfe, zerknüllter Zettel und angefangener Seiten, in denen vieles durchgestrichen ist. Es ist das Kapitel über die Lehrerin Isabella Nachlieli aus der Schule 'Heimat des Kindes' mit ihrem ganzen Katzenheer. Ich werde da auf einiges verzichten müssen."

Die vielen - komischen und traurigen - sich immer wieder kreuzenden Geschichten geben dem Roman eine fast barocke Üppigkeit; aber wie in einem chehovschen Drama übertönt ein untergründiges Unglück die Stimmung, haben am Ende die Figuren allesamt ein gebrochenes Herz. In der kunstvollen Mischung aus historischer Rekonstruktion, autobiografischem Diskurs, kulturpolitischer Analyse, psychologischer Charakterdarstellung und anekdotischem Erzählen ist dieser Roman ein großer narrativer Entwurf.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits in der Neuen Zürcher Zeitung vom 5.3.2005. Wir danken der Autorin für die Publikationsgenehmigung.

Das Buch von Amon Oz erschien zuerst im Jahr 2004 und liegt nun in einer Taschenbuchausgabe vor.

Titelbild

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
829 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783518459683

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch