Zwischen A-ffront und Z-erwürfnis

Wie uns die Herausgeber Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase in ihrem Sammelband in literaturwissenschaftliche Kontroversen verwickeln

Von Jürgen WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn der Beitrag von Christina Wald (über die Kontroverse zwischen Martha C. Nussbaum und Judith Butler) keinen bloß literaturwissenschaftlichen Ansatz darstellt - und damit eventuell aus dem Rahmen dieses Sammelbandes fällt - das darin formulierte Problem ist so interessant, dass es hier gleich am Anfang der Rezension stehen soll. "Kann und soll Theorie politische Praxis sein und zu ihr führen?" fragt die Autorin zu Beginn ihres lesenswerten Aufsatzes, der die beiden Kontrahentinnen auf die Positionen eines "old style"-Feminismus (vertreten durch Nussbaum) und einer poststrukturalistischen Gender-Theorie (Butlers) festschreibt. Die Kontroverse der beiden Feministinnen ist deswegen so wichtig, weil sie sehr emotional geführt wird, auch wenn sie eher monologisch ausfällt. Es ist nämlich eher Frau Nussbaum, die Butler kritisiert, als dass es sich um eine wirkliche Kontroverse zweier Personen handeln würde. Butler selbst nimmt zu den von Nussbaum gemachten Vorwürfen gar nicht Stellung. Um darzustellen, wie weit eine Kontroverse im Extrem gehen kann, bis hin zur persönlicher Beleidigung und der Pathologisierung des vermeintlichen Gegners, seien hier - exemplarisch - nur einige Kritikpunkte skizziert.

Die Dichotomie Nussbaums stellt auf die eine Seite den "guten, alten Feminismus", der konkrete Projekte verfolge (also zum Beispiel die Veränderung der Gesellschaft) und zu dem sie sich natürlich selbst zählt, und auf die andere Seite eine von Butler verkörperte Gender-Theorie, die "just fancy words on paper" biete. Wie Wald ausführt, suggeriere Nussbaum, dass Butler "mehr der narzisstischen Selbstbespiegelung diene als dem Kampf für gesellschaftliche oder politische Veränderung". Unter der Anleitung von Butler setze sich an den amerikanischen Universitäten ein Feminismus durch, der sich eines "new type of verbal and symbolic politics" bediene, "that makes only the flimsiest of connections with the real situation of real women", so Nussbaum. In ihrer Kritik geht sie sogar so weit, den Stil Butlers zu verdammen und moniert: "It bullies readers into granting that, since one cannot figure out what is going on, there must be something significant going on, some complexity of thought, where in reality there are often familiar or even shop-worn notions, addressed too simply and too casually to add any new dimension of understanding". Nussbaum meint also, Butler verkaufe nur simple Weisheiten in neuem Gewande, so Wald. Aber es kommt noch viel dicker: Nussbaum unterstellt Butler sogar Masochismus und auch, dass sie diesen genieße und sogar noch "sexy" finde. "She prefers the sexy acts of parodic subversion to any lasting material or institutional change. Real change would so uproot our psyches that it would make sexual satisfaction impossible. Our libidos are the creation of the bad enslaving forces and thus necessarily sadomasochistic in structure. [...] What a bore equality is! No bondage, no delight. In this way, her pessimistic erotic anthropology offers support to an amoral anarchistic politics."

Die von Wald als Quasi-"Familiendrama" charakterisierte Kontroverse zwischen Nussbaum und Butler wendet sich innerhalb der feministischen Gemeinschaft gegen die durch personenbezogene Kritik hervorgerufene Profilierung von Akademikerinnen auf Kosten anderer. Die von Wald eingangs gestellte Frage beantwortet sie denn auch selbst mit folgenden Worten: "Dieser von Nussbaum implizierte Versuch [...] erscheint mir unfruchtbar, da er nicht anerkennt, dass politischer Kampf nicht nur in einer praktischen Form möglich ist, sondern dass auch Bemühungen notwendig sind, geltende Ideologien und naturalisierte Welterklärungen auf einer theoretischen Ebene durchzuarbeiten [...]." Und eben nicht nur aufgrund ihrer politischen Praktikabilität. Trotzdem ist es vergnüglich, den Disput nachzuvollziehen - und man braucht sich den Schlussfolgerungen von Wald nicht unbedingt anzuschließen, um diesen Aufsatz genießen zu können.

In einem anderen Beitrag von Andreas Dittrich werden die Einwände Theodor W. Adornos gegen Martin Heideggers Umgang mit (literarischen) Texten dokumentiert. "Jargon oder Eigentlichkeit" heißt der Essay, in dem sich der Autor auf eine beinahe ebenso monologische Kontroverse einlässt wie die oben geschilderte. Heideggers mangelnde Bereitschaft zu offenem Disput habe einen persönlichen oder brieflichen Austausch zwischen den beiden Philosophen stets verhindert. Auch wenn man das Biografische betrachtet, wäre ein friedlicher Dialog wohl kaum möglich gewesen: der eine, Adorno, musste vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen, der andere, Heidegger, war sogar ein Mitglied ihrer Partei. 1933 war der Philosoph der NSDAP beigetreten und Universitäts-Rektor in Freiburg geworden. Das Verbindungsglied zwischen Adorno und Heidegger war die "Phänomenologie" Edmund Husserls, bei dem Heidegger einst als Assistent gearbeitet hatte, bevor dieser aufgrund seiner jüdischen Herkunft ins Exil vertrieben wurde und Heidegger auf seinen Lehrstuhl nachfolgte.

Andreas Dittrich möchte sich gegen eine zeit- und lebensgeschichtliche Deutung in seinem Beitrag jedoch verwehren, da er sich als "allzu wohlfeil" aufdränge. Er schildert die Auseinandersetzung der beiden mit Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung über die philosophische Lesbarkeit ästhetischer Texte, wobei ihm besonders die auf Friedrich Hölderlin bezogenen Texte von eminentem Interesse sind. Anhand von drei Maximen, auf die beide Philosophen unabhängig voneinander verfallen, wird das Wesentliche für ästhetische Texte ausgeforstet. "Ästhetische Texte sind nicht aus ihren historischen Bedingungen verstehbar, sondern bedürfen eines immanenten Zugangs." Immanenz-Maxime nennt Dittrich die erste These, sie habe sich vor allem gegen positivistische und biografische Strömungen der zeitgenössischen Philologie gewandt. Eine Zuspitzung dieser Idee wird in einer Anti-intentionalistischen Variation von beiden Philosophen gemacht: Das "Gedichtete" sei nicht das, "was Hölderlin von sich aus in seinem Vorstellen meinte", sondern vielmehr jenes, "was ihn meinte, als es ihn in dieses Dichtertum berufen hat", schrieb Heidegger. Adornos Einsichten seien Dittrich zufolge zunächst ähnlich gelagert: Ein Kunstwerk gelinge umso vollkommener, "je spurloser die Intention in dem Gestalteten aufgehoben" sei. So paraphrasiert Dittrich also, Heidegger und Adorno folgend, die zweite Maxime: "Ästhetische Texte sind nicht nur über eine Rekonstruktion der Vorstellungen und Intentionen ihres Autor verstehbar, sondern bedürfen eines intentionsunabhängigen Zugangs."

Wegen des "wesenhaften Reichtums" der Worte sei eine eindeutige Sinnfestlegung verwehrt, schreibt Heidegger. Er könne nur "eine", aber nicht "die" Interpretation anbieten. Die dritte Maxime wird nun wie folgt formuliert: "Ästhetische Texte können erst in der Konfrontation mit philosophischem Denken adäquat verstehend nachvollzogen werden." Adorno meinte später: "Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes rechtfertigt Ästhetik."

Im dritten Teil seiner Analyse gelangt Dittrich zu weiteren Erkenntnissen der beiden Philosophen zum Gespräch, in dem sich die Sprache eigentlich erst verwirkliche. Überraschend sei nun - und darin besteht wohl die eigentliche Kontroverse -, dass Adorno Heidegger trotz der eigentlichen Übereinstimmungen auf polemische Art und Weise anfeinden wolle. Er wirft ihm seine "Phrasen aus dem Jargon der Eigentlichkeit" vor, seine "klappernd obligate Differenz zwischen Sein und Seiendem", seine "ausgelaugtesten Clichès von Schollenromanen". Außerdem fände sich bei Heidegger ein "humorlos unfreiwilliger Witz" und einige "hochtrabende Kalauer", weiter unterstellt er ihm "Archaik" und "Provinzialität". Sein "Jargon der Eigentlichkeit" und "Wesentlichkeit" sei außerdem einer faschistoiden Tendenz des Denkens und Sprechens zuzurechnen, für die Hölderlins Dichtung unzulässigerweise in Dienst genommen werde, schreibt Adorno. Die Antwort auf die Frage nach Adornos polemischen Ton gegenüber Heidegger fällt dann relativ kurz aus. So schreibt Dittrich: Adorno habe den ideologischen Ton in seinem eigenen Werke selbst stets bekämpft und lehne deswegen Heideggers Auslegungen ab. "So mag sich begründen lassen, warum Adorno in dieser Kontroverse eine polemische Sprache wählt und warum Heidegger es lebenslang ablehnt, mit Adorno kontrovers ins Gespräch zu kommen. Die erkenntnistheoretische Relevanz des intellektuellen Konflikts besteht in diesem Falle nicht zuletzt darin, dass er Aufschlüsse gibt über fundamentale wissensethische Überzeugungen der Beteiligten, was eine philosophische Streitfrage sei und wie man philosophisch über sie streiten solle."

Um die oben geschilderten wissenschaftsgeschichtlich wie wissenschaftstheoretisch aufschlussreichen Konflikte zu rekonstruieren, fand im Sommersemester 2006 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin die Veranstaltungsreihe "Literaturtheorie in der Kontroverse" statt, die die Grundlage zu diesem Sammelband schuf. Die Analyseskizzen exemplarischer literaturtheoretischer Kontroversen reichten dabei, wie die Herausgeber schreiben, "von der altphilologischen Kontroverse zwischen Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff bis zu der neuphilologischen zwischen 'Kulturwissenschaft' und 'Philologie'. Sie zeigen, dass es recht einfach sein mag, einen literaturtheoretischen Streit vom Zaun zu brechen, dass es aber bei weitem schwieriger ist, genau zu bestimmen, was das eigentlich ist: eine Kontroverse."

Somit verfolge dieser Band ein doppeltes Interesse, wie die Herausgeber im Vorwort schreiben: Zum einen solle durch konzise Studien plausibel gemacht werden, dass die Kontroversengeschichte einen instruktiven und nützlichen Zugang zur Wissenschaftsgeschichte beziehungsweise Denkgeschichte eröffne; zum anderen soll die Hypothese, dass Kontroversen ein epistemisches Genre seien - das heißt, dass sie der Produktion, Artikulation und Evaluation philologischen Wissens dienen können - an Fallbeispielen überprüft werden.


Titelbild

Ralf Klausnitzer / Carlos Spoerhase (Hg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
514 Seiten, 74,50 EUR.
ISBN-13: 9783039112470

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