Der Charme der Charlotte Roche
"Feuchtgebiete" ist ganz großes Kino. Warum die Kritiker es unterschätzen
Von Martin Spieß
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEs gibt Menschen, auf die lässt man nichts kommen. Seine Mutter, zum Beispiel. An zweiter Stelle kommt bereits die Dame, deren Debütroman eine Debatte um weibliche Sexualität und Gender ausgelöst hat, wie sie sie vielleicht nicht einmal selbst erwartet hätte: Charlotte Roche.
Charlotte Roche ist wahrscheinlich die beste Musikjournalistin dieses Planeten. Das aber ist momentan nicht von Belang, weil im Februar ihr Debütroman "Feuchtgebiete" erschienen ist: Die 18-jährige Protagonistin Helen Memel liegt wegen einer missglückten Intimrasur im Krankenhaus. Eine entzündete Analfissur soll entfernt werden, und die von Helen "Blumenkohl" genannten Hämorrhoiden gleich mit. Und während sie im Krankenhaus liegt, ergeht sie sich in eindeutigen Beschreibungen ihrer "Feuchtgebiete": ihrer Muschi, ihrem Poloch und den dazugehörigen Flüssigkeiten. Muschischleim, Menstruationsblut, Kacke: "Hygiene", wie sie sagt, "wird bei mir klein geschrieben." Helen erzählt in leicht dahin gefrotzelten Sätzen von ihrem Körper, von ihren Vorlieben bei Masturbation und Sex und immer wieder kommt sie auf die übertriebene Hygiene der Gesellschaft. Helens Körper ist ihr Untersuchungsgegenstand, auf ihre geschlechtsteilbezogene Sprach- oder besser Wortlosigkeit reagiert sie mit verbalexplorativem Einfallsreichtum.
Das Buch funktioniere nur auf der "Ebene der Provokation", meint Jenni Zylka in der "taz". Franziska Seyboldt schreibt dem Buch dagegen therapeutische Qualitäten zu: Junge Frauen könnten lernen, mit ihrem Körper freier umzugehen. Lothar Müller sieht in dem Buch nicht viel mehr als Kritik an der oberflächlichen "Heidi-Klum-Welt", schrieb er in der "Süddeutschen Zeitung". Allein "FAZ"-Feuilletonchef Patrick Bahners ist der Ansicht, dass "nach Auskunft dieses klugen Romans die sexuelle Aufklärung ein vernünftiger Glaube" ist.
Was die meisten der Kritiker von "Feuchtgebiete" entweder zu erwähnen vergessen oder für marginal halten, das ist die Geschichte abseits von Helens Erkundungen. Sie ist Scheidungskind. Der Krankenhausaufenthalt scheint ihr die geeignete Möglichkeit, ihre Eltern, die beide neue Partner haben, wieder zusammen zu bringen. Das geht so weit, dass sie sich die bereits heilende Wunde wieder verletzt, nur um den Krankenhausaufenthalt zu verlängern. Spätestens hier muss auch dem dümmsten Leser klar werden, dass die Geschichte ernst zu nehmen ist und nicht nur eine Alibifunktion einnimmt.
Man kann den Kritikern eben dieser Geschichte ihre Rezeption jedoch schwerlich vorwerfen: denn Charlotte Roche hat in einem Interview gesagt, dass "Feuchtgebiete" eigentlich ein Sachbuch über modernen Feminismus zwischen Porno und "Emma" werden sollte. Der Schritt von da hin zur Vermutung, dass die Geschichte im Nachhinein erst über die Kritik an der "Heidi-Klum-Welt" gestülpt ist, ist nicht gerade weit. Schafft man es aber, Roches Aussage auszuklammern, kann man sich auch auf die Geschichte einlassen. Und entdeckt ihren Zauber: ein Mädchen, dass sich über den Schmerz der Elterntrennung in ihren Körper flüchtet, in die Erforschung und Benennung all dessen, was wirklich ihr gehört. Ihre Eltern kann sich sie nicht kontrollieren, sie schafft es nicht einmal, sie zur selben Zeit in ihr Krankenhauszimmer zu bekommen. Sich selbst aber hat sie unter Kontrolle. Und diese übt sie bis zur gedanklich und körperlich letzten Konsequenz aus. Wie gut, kann die Frage nur sein, muss ein Charlotte-Roche-Roman sein, wenn sie wirklich einen Roman und nicht eigentlich ein Sachbuch schreiben will, dem sie mal eben noch eine Geschichte beistellt?
"Feuchtgebiete" ist, ohne Patrick Bahners zu kritisieren, mehr als nur "klug". Der Roman ist ein weiterer Beweis dafür, dass man Recht daran tut, Charlotte Roche großartig zu finden und ernst zu nehmen. Nicht nur als Musikjournalistin und moderne Feministin. Sondern auch und gerade als Autorin.
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