Gute Arbeit

Jean-Patrick Manchette als überaus intelligenter Kritiker des französischen Krimis

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwann mal wird es klar, um was es Jean-Patrick Manchette geht: um gute Arbeit. Im Mai 1995 veröffentlicht er in der Zeitschrift "Polar" die letzte seiner umfangreichen Glossen, in denen er sich - zu diesem Zeitpunkt seit zwanzig Jahren - mehr oder minder regelmäßig zu den neu erschienenen Kriminalromanen in Frankreich versteht. In einem schönen, gut übersetzten "Roman noir" habe sich der Übersetzer in einem kleinen Detail geirrt, nämlich in der Bezeichnung des Kalibers und der Art der Waffen. Darauf folgen mehrere Seiten, in denen Manchette Maßsysteme von Kalibern und die dazu gehörigen Waffenarten und Notierweisen beschreibt ("mit" und "ohne Punkt", mit "gezogenem" oder "glattem Lauf", für "Puristen" oder "Schlampen"). Seitdem kann kein Krimibösewicht mehr seinen Untaten nachgehen, ohne dass sich der Leser Gedanken darüber macht, ob das Schießeisen, mit dem er das tut, auch angemessen vorgestellt worden ist.

Niemand toleriert mangelnde Korrektheit im Fiktionalen, sobald sie auffällt und nicht zum genretypischen und gewünschten Schwindel gehört, den nun einmal der Krimi auslösen soll. Deshalb wird es wohl besser sein, eine Ahnung von dem zu haben, worüber man schreibt oder andernfalls gleich in die Groteske zu wechseln. Es sei denn, die Simulation ist so gut, dass einem keiner auf die Schliche kommt. Zumindest ist das die Richtschnur, die Bertolt Brecht ausgelegt hat (und der wohl die meisten Autoren so gut wie möglich folgen: Simulation von Kompetenz reicht aus, wenn sie gut genug ist).

In den davor liegenden Jahren skizzierte Manchette die Entwicklung des Krimis, insbesondere des Krimis der härteren Art, der vor allem aus den USA nach Frankreich überschwappte. Dabei konzentrierte sich Manchette nicht zuletzt auf die Verbreitung der amerikanischen Meister des hard boiled-Krimis und ihre Nachfolger, in denen er die genreprägenden Faktoren sah. Und das mit gutem Grund: Manchette publizierte im Jahr 1976 einen thesenhaften Essay, in dem er im hard boiled -Roman (auch "Roman noir") eine schlechte Gesellschaft und Rechtsordnung am Werk findet, jedoch den fehlenden Klassenkampf moniert, auch wenn er konzediert, dass der "Roman noir" antifaschistisch sei. Er sieht also im Krimi ein Genre, das seiner Zeit hart auf den Fersen ist und sich intensiv mit den Verhältnissen in einer Gesellschaft auseinandersetzt, die von Macht und Gewalt geprägt ist, ohne ihr aufzukündigen. Als den Status einer Gesellschaft anzeigendes Genre hat der Krimi somit eine besondere Funktion. Diese These zieht sich durch die gesamten Essays Manchettes über die kommenden zwanzig Jahre, bis zu jenem letzten Essay, in dem von Pistolen, Revolvern und Gewehren die Rede sein wird.

Das ist immerhin eine lange Karriere, und das, obwohl Manchette in jenem Text von 1976 das baldige Ende des Krimis vorhersagte: Mit dem Aufflammen der proletarischen Revolte werde wohl auch der "Roman noir" zu seinem Ende kommen, die Bewegung zum Kommunismus werde wohl alle Rückständigkeiten und alle Formen der Ungeduld befriedigen - wenngleich einem nicht alle Schandtaten verziehen würden. Wow: Ein Krimikritiker als Apologet der Revolution, die auch sein Genre auflösen wird?

Wenn man bedenkt, dass Manchette eingestandenermaßen mit dem Genre angebändelt hatte, weil er dringend Geld brauchte und so hoffte, seine Familie ernähren zu können, mag ein solches Niedergangsgeraune einigermaßen hoffnungsvoll klingen. Aber soweit ist es dann doch nicht gekommen. Die Revolution blieb vorerst aus, Krimis wurden weiter geschrieben und gefilmt, und Manchette blieb dem Genre erhalten. Gottseidank. Denn was hätte Manchette auch in einer kommunistischen und damit krimilosen Kultur tun können? Vielleicht Erbauungsromane schreiben - was zumindest interessant gewesen wäre.

Freilich wird man auch in der historischen Distanz nicht jedes Wort Manchettes auf die Goldwaage legen dürfen, auch wenn es gedruckt worden ist. Manchettes Berührungen mit den Situationisten (allerdings erst in den späten 1960er-Jahren) lassen ihn nicht gerade als Verfechter des rationalen und trockenen Schrifttums erscheinen. Stattdessen hat er sich als ernsthafter (also extrem witziger und engagierter) Repräsentant der Schundliteratur erwiesen. Manchette schrieb Krimis bis um 1980, er war an Filmen und Comics, sogar an einer Comic-Zeitschrift beteiligt, er gab Science Fiction heraus und setzte sich unter anderem für Marc Dachys Dada-Studie oder für Arno Schmidt in Frankreich ein (wofür ihm unser Dank sicher ist). Er war damit, wenn man so will, einer derjenigen Kulturschaffenden, die einen nicht nur mit immer neuem Stoff versorgen, sondern auch noch mit den dazugehörigen Auslegungen und Empfehlungen.

Seinen besonderen Verdienste hat er freilich mit der Modernisierung des "polar" im "néo-polar", also mit der Etablierung einer Krimi-Richtung, die nicht nur sozialkritisch und engagiert, sondern zugleich auch zynisch, hart, kaltblütig, ironisch und ungemein unterhaltsam ist (wie zuletzt an der Gemeinschaftsproduktion Manchettes mit Jean-Pierre Bastid zu sehen war, die unter dem Titel "Laßt die Kadaver bräunen!" auf Deutsch erschienen ist). Insofern sind seine Essays und Kritiken ein Nebenwerk, das zwar informativ und aufschlussreich ist, trotz der zeitlichen und örtlichen Distanz zu den gepriesenen und verrissenen Neuerscheinungen (auch unterhaltsam, befleißigt sich Manchette doch eines eher lockeren und persönlichen Stils, der heute ein bisschen aus der Mode gekommen ist), aber das dann doch hinter die Romane zurücktreten sollte.

Störendes gibt es freilich auch zu vermelden. So zum Beispiel das fehlende Nachwort, das in Leben und Werk Manchettes einführen könnte oder auch nur erklärte, weshalb immer wieder von "polar" die Rede ist, wenn Krimis gemeint sind - weils schöner klingt und französischer? Möglich, aber aus dem Band ist das nicht zu entnehmen. Auch wären Hinweise auf Manchettes eigenes Krimi-Werk hilfreich und verliehen den Essays doch ein wenig mehr Grund und Boden, gerade wenn man die Bedeutung Manchettes für den neuen französischen Krimi seit den frühen 1970er-Jahren bedenkt - und wenn man den einen oder anderen vielleicht sogar kennt: Distel jedenfalls hat sich auf Manchette kapriziert und bringt einen empfehlenswerten Band nach dem anderen heraus. Das Interview, das Manchette im Juni 1980 der Zeitschrift "Polar" gab, ist zwar ganz aufschlussreich, ersetzt das Vorwort aber nicht. Auch wäre der eine oder andere Hinweis in den Fußnoten (die ansonsten nur die meist englischsprachigen Titel der im Haupttext französischen Krimis liefert) hilfreich. Auch wenigstens sparsame editorische Hinweise auf die zahlreichen Kürzungen und Auslassungen fehlen, von denen man annehmen muss, dass sie - ganz allgemein - uninteressant sind. Aber warum, kann man nur ahnen. Ein wenig Zusatzmaterial findet sich glücklicherweise in einem Faltblatt, das hoffentlich allen ausgelieferten Bänden beiliegt und von Käufern und Lesern meist voreilig weggeworfen wird. Diesmal bitte nicht, sondern als Lesezeichen benutzen.


Titelbild

Jean-Patrick Manchette: Chroniques. Essays zum Roman noir.
Übersetzt aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié.
Distel Verlag, Heilbronn 2005.
340 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3923208782
ISBN-13: 9783923208784

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