Was war jüdisch an Kafkas Schriftstellerexistenz?
Manfred Voigts über die Uninterpretierbarkeit der Kafka'schen Texte
Von Ursula Homann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseStatt die zahlreichen Deutungen, die das Werk von Franz Kafka bisher erfahren hat, um eine neue zu bereichern, bemüht sich Manfred Voigts, Verständnis für die unendliche Interpretierbarkeit der Kafka'schen Texte zu wecken.
Denn Kafka ist, befindet der Autor, ein Extremfall der Germanistik, die noch keinen Grundkonsens zu ihm finden konnte, weil er kein Schriftsteller im üblichen Sinne ist und weil seine Texte, auch wenn sie einen "unentrinnbaren Deutungszwang" ausüben, sich den klassischen Möglichkeiten der Interpretation entziehen und seine Sprache mit Unklarheiten und vieldeutigen Bedeutungen erfüllt ist.
Zudem übersehen viele Interpreten bei dem Prager Dichter die tiefe Spaltung zwischen dem "täglichen" und dem "nächtlichen" Kafka und erkennen nicht, dass die Elemente seines nächtlichen Schreibens eine gewisse Nähe zur rabbinischen Literatur aufweisen, besonders dort, wo sich Kafkas Texte von der anderen Literatur seiner Zeit abheben.
Zudem war Kafka der erste Leser seiner Texte, wusste er doch nach dem Schreiben oft nicht, "was er in seinem Text eigentlich sagen wollte", und konnte diese daher genau so wenig interpretieren wie jeder andere Leser. Der Leser hingegen bedarf - das hatte schon Hannah Arendt erkannt - zum Verständnis der Texte "der gleichen Einbildungskraft, die am Werke war, als sie entstanden" sind. Letztlich wünschte sich Kafka einen verunsicherten Leser, dem als (Mit-)Autor des Textes eine besondere Verantwortung obliegt. Gleichwohl steht dem Leser der Text als ein fast vollständig fremdes Wesen gegenüber. Aus dieser Spannung erwächst zu einem großen Teil das anhaltende Interesse an Kafka immer wieder neu, meint der Verfasser und weist darauf hin, dass der Autor, der sich der sinnstiftenden Tradition entzog, stets unter innerem Zwang geschrieben und das Zustandekommen seiner Texte als "Geburt" bezeichnet habe.
Obwohl Kafka, führt Voigts weiter aus, seinen Lebenswandel in keiner Weise nach jüdischen Vorschriften und Gesetzen ausrichtete und nie explizit auf das Judentum einging, thematisierte er mit großer Intensität Fragen, die im Zentrum des Judentums stehen, nämlich diejenige nach dem Gesetz und die Frage nach einem persönlichen Gott, die beide, nach Meinung des Autors, durch die Aufklärung negativ beantwortet worden seien.
Der von der "Tagseite" her erfassbare Schriftsteller Kafka widerspreche dem üblichen Bild des jüdischen Menschen, der eher verstandesmäßig und verantwortungsbewusst handelt. Auch Kafkas Grunderfahrung, dass er nicht in diese Welt gehöre, hatte keinen jüdischen Hintergrund. Stand und steht doch das Judentum der Welt und der Rolle des Menschen in ihr durchaus positiv gegenüber - und zwar viel positiver als das Christentum. Kafkas nächtliche Seite wiederum entwickelte eine Nähe zum Judentum, die in stärkster Spannung zum gelebten Judentum steht.
Im Ostjudentum hatte er ein nicht-assimiliertes Judentum kennen und schätzen gelernt, wohl wissend, dass das Leben der Ostjuden mit seiner Existenz als Schriftsteller nicht vereinbar war. Für den Chassidismus zeigte er eine gewisse Sympathie, nicht zuletzt weil dieser von einer grundsätzlichen Sündhaftigkeit des Menschen ausgeht, die vom rabbinischen Judentum so nicht geteilt wird, weil dieses die Verantwortung des Menschen betont und diese Verantwortung an das konkrete Tun bindet. Gleichwohl war und blieb Kafka, hebt der Verfasser hervor, ein West-Jude, aber ein besonderer Westjude. Während das Westjudentum geprägt war durch Aufklärung, Emanzipation und einen messianisch gefärbten Fortschrittsglauben, war Kafkas nächtliche Welt vorbürgerlich, mittelalterlich und keinesfalls aufklärerisch. Mithin war seine literarische Existenz von den westjüdischen Traditionen weit entfernt.
Kafkas oft zitierten fünf Worte "Schreiben als eine Form des Gebetes" deutet der Autor dagegen als einen Hinweis auf ein Schreiben, das nicht auf Eitelkeit und Genusssucht zurückzuführen, sondern den Traditionen des Judentums verpflichtet sei. Der Dichter selbst betrachtete das Schreiben als Lohn für Teufelsdienst. Diese nicht profane Qualifizierung erwuchs ihm aus seinem jüdischen Hintergrund, meint Voigts. Schon 1912 schrieb Kafka an Felice von einem "Teufel, der immer in der Schreiblust steckt", und an Max Brod richtete er im Juli 1922 folgende Zeilen: "Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir mit der Deutlichkeit kindlichen Anschauungsunterrichtes klar, dass es der Lohn für Teufelsdienst ist. Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geistern, fragwürdigen Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt. Vielleicht gibt es auch anderes Schreiben, ich kenne nur dieses: in der Nacht, wenn mich die Angst nicht schlafen läßt, kenne ich nur dieses."
Auch Kafkas Bitte an Brod, seine Schriften und Aufzeichnungen nach seinem Tod zu vernichten, könne als Vernichtung des "Lohnes für Teufelsdienst" gesehen werden, so Voigts, als eine tief jüdisch inspirierte Handlung. Immerhin sollten nach der rabbinischen Tradition die Schriften der Häretiker verbrannt werden.
Im letzten Teil seines Buches vergleicht Manfred Voigts Kafka mit Moses Mendelssohn - ungeachtet der Tatsache, dass beide recht unterschiedliche Persönlichkeiten waren und Kafka sich nie ernsthaft mit Mendelssohn befasst hat.
Dieser - nach Lessing eine Symbolgestalt des guten Juden, Zionisten kritisierten ihn als den ersten Assimilanten - sah in der Trennung der Schrift vom Leben ein großes Übel und behauptete: "Die Schrift nimmt den Platz ein, wo einmal der Begriff der äußeren Wirklichkeit angesetzt worden ist", und genau in dieser sprachskeptischen Grundhaltung Mendelssohns sieht Voigts eine Parallele zu Kafkas Satz, dass literarisches Schreiben "Lohn für Teufelsdienst" sei.
Außerdem seien beide tief gespalten gewesen und markierten in ihrem inneren Zerwürfnis den Beginn und das Ende der bürgerlichen, der bildungsbürgerlich-literarischen Epoche. Beide waren "Übergangsmenschen". Bei Kafka stehe die Unabgeschlossenheit seiner Texte mit seiner eigenen Unfertigkeit, wie er sie empfunden habe, sowie mit seinem halben Judentum, seiner Existenz innerhalb der "jüdischen Übergangsgeneration", in unmittelbarem Zusammenhang. Seine "Zwischentöne aber verhallten nicht", und so wurde er "als einer der ganz großen Schriftsteller unsterblich."