Starke Frauen und schwache Männer

Kathrin Schmidts Debütroman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition"

Von Lars StrombachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lars Strombach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die junge Josepha Schlupfburg ist Druckerin im "VEB Kalender und Büroartikel Max Papp". Aufgewachsen ist sie elternlos bei ihrer Urgroßmutter Therese, mit der sie auf engstem Raum zusammenwohnt und mit der sie sich ohne viele Worte gut versteht. Durch große emotionale Vertrautheit zwischen den beiden entsteht ein Musterbeispiel an perfekter wortloser Kommunikation.

Josepha Schlupfburg ist schwanger. Das Kind, das sie erwartet, wird unehelich zur Welt kommen. Dies war schon immer so in der Sippe der Schlupfburgs, Wilczinskis, Hebenstreits und Globottas; und wie die weiblichen (und auch die männlichen) Vorfahren der jungen Josepha alle heißen mochten. Josepha wird es bald von ihrer weisen Urgroßmutter erfahren, denn die beiden Frauen begeben sich gemeinsam auf die "Gunnar-Lennefsen-Expedition".

Den nördlich klingenden, an Polarforscher wie Barents, Scott und Ammundsen erinnernden Namen haben sich beide Frauen von den Augen abgelesen. Der Name erscheint passend, da die beiden Frauen "in den äußersten Norden ihrer weiblichen Gedächtnisse vorzudringen hoffen, dorthin, wo Vereisungen am dicksten sind, wo das Packeis treibt und vereinzelt auftauchende Visionen rasch zum Untertauchen zwingen." Scheinbar nebenbei und ziemlich authentisch schildert Kathrin Schmidt den realsozialistischen DDR-Alltag in der thüringischen Kleinstadt W. mit all dem provinziellen Mief, der Josepha bisher wenig ausgemacht hat. Beim Lesen glaubt man, den Geruch von Klo, Karbol, Kohl und Kantinenessen mit dünner Soße zu riechen. Josepha mag das zwar nicht, unternimmt zunächst aber auch nichts dagegen. Erst die Schwangerschaft, die sie in einen träumerischen Zustand versetzt, verändert und befreit sie. Mit merkwürdigen Mitteln wehrt sich die oft hexenhafte Weiblichkeit der Schlupfburgs, gegen das Eindringen des Fremden in die eigene Welt, in der sie mit ihrer hochbetagten und wissenden Großmutter lebt.

Großmutter hat das ganze Jahrhundert von seinem Beginn an bewußt miterlebt und kann Josephas Bedarf nach einer Art Familienchronik und moralisch-biologisch-geschichtlicher Rechtfertigung für die uneheliche Geburt ihres Kindes während der elf Etappen der Gunnar-Lennefsen-Expedition vortrefflich stillen. Die Expedition beginnt mit dem achten Tag der Schwangerschaft und endet mit der Geburt ihres Sohnes, der den mongolischen Namen Shugderdemydin tragen soll. Die ihr unwichtig und ungehörig erscheinende Frage nach dem Vater des Kindes beantwortet die Autorin nicht. Manchmal geht's erstaunlich grausam zu in Kathrin Schmidts Roman. Zum Beispiel, wenn die Urgroßmutter sich erinnert, wie sie ihren Bruder Paul mit der Holzpantine erschlug, weil sie ihm den qualvollen Gastod im Weltkrieg ersparen wollte.

Die Frauen der Schlupfburg-Sippe scheinen alle über paranormale, kinetische oder hexenhafte Fähigkeiten zu verfügen. Es ist ein Roman, der esoterische, philosophische, mystische Bereiche berührt, erzählt mit mit einer gehörigen Portion Phantasie, mit teilweise detaillierten Geschichtskenntnissen und einer erstaunlichen Fähigkeit, das Alltagsleben der Frauen in der DDR und Westdeutschland, ihr Denken, Fühlen, ihre zeitgenössische Moral, ihre Sorge um das Wohlergehen ihres Nachwuchses für den Leser in authentische Bilder zu packen. Mit "gynäkologischer Genauigkeit" schildert Kathrin Schmidt die biologischen Vorgänge in den Bäuchen der Schlupfburg-Sippe. Gerade die Darstellung der symbolhaft-seltsamen Fruchtbarkeit und Fraulichkeit nimmt manchmal geradezu groteske Züge an. Unbedingt lesenswert.

Titelbild

Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998.
429 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3462027425

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