Die Aporie der Kategorie Natur

Natur als erkenntnistheoretischer Grenzbegriff für Gender Studies

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne Judith Butlers Buch "Gender Trouble" wäre die gesamte gender-theoretische Diskussion des gerade zu Ende gegangenen Jahrzehnts nicht vorstellbar. Auch Carmen Gransee erweist ihr bereits im ersten Satz ihrer Untersuchung "Grenz-Bestimmungen - Zum Problem identitätslogischer Konstruktion von 'Natur' und 'Geschlecht'" die Referenz.

Nach Andrea Maihofers diskurstheoretischen Neubestimmung von "Geschlecht als Existenzweise" (1995), das sich gegen den mainstream des de(konstruktivistischen) Verständnisses dieser Analysekategorie richtet, legt nun auch Gransee einen nicht weniger innovativen Versuch vor, die fundamentalen Kategorien der feministischen Theorie und der gender-Forschung neu zu bestimmen. Im Zentrum des Buches "steht die Reflexion des problematischen Natur-Kultur-Gegensatzes". Von dieser grundlegenden Dichotomie aus werde die Geschlechterdifferenz konzeptualisiert. Zwar sei die gender-theoretischen Kritik an einem ontologisch verstandenen Naturbegriff "unhintergehbar", doch werde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und die Aporie des Natur-Kultur-Problems von Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen weitgehend kulturalistisch aufgelöst.

Die Kritik an der Verwobenheit von "spezifischen modernen identitätslogischen Konstruktionen von 'Natur'" und der entsprechenden Kodierung von Geschlechterdifferenz dürfe nicht zu "kulturidealistischen Vereinseitigungen" führen. Des weiteren dürfe das berechtigte Anliegen, die Naturalisierung des Geschlechts zu kritisieren, nicht dazu führen, dass der "Körper vollständig diskursiviert" wird. Beides jedoch sei im gender-theoretischen Diskurs der Fall. Daher solle im Zentrum feministischer Kritik nicht länger die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz stehen, sondern vielmehr die Tendenz, "'Natur' restlos in Kultur aufzulösen", die sie in nicht ganz glücklicher Anlehnung an einen Topos Heideggers "Naturvergessenheit" nennt, und die in unserem "postbiologischen Zeitalter" universell zu werden drohe. Die von der Gender-Forschung betriebene und kritisch gemeinte "Kulturalisierung der 'Natur'" erweise sich angesichts der von patriarchaler und herrschaftswissenschaftlicher Seite angestrebten gentechnologischen Machbarkeit von Natur als affirmativ und assimilierbar. In diesem Zusammenhang erinnert die Autorin daran, dass gerade der gentechnologische Machbarkeits- und Beherrschbarkeitswahn die traditionell an Gebärfähigkeit geknüpfte Konzeption von 'Weiblichkeit' als historisch und technologisch überholt bezeichnet. Die mit diesem "instrumentellen Umgang" mit 'Natur' vereinbare feministische "Naturvergessenheit" gelte es zu überwinden, so Gransee. Werde die "Naturvergessenheit", die das grundlegende Problem ausmache, reflektiert, könne das "Spannungsverhältnis von 'Natur' und 'Kultur', von 'Materie' und 'Diskurs'," und schließlich dasjenige von sex und gender ausgelotet werden.

Doch werde die Suche nach nicht kulturalistisch verkürzten Antworten auf das aporetische Verhältnis von Natur und Kultur vom gender-theoretischen mainstream geradezu "tabuisiert". Ein Vorwurf, der ganz sicher nicht zutrifft; zumal in Deutschland nicht, wo Butlers Thesen von Beginn an nicht nur enthusiastisch, sondern auch äußerst kritisch aufgenommen wurden. Man denke nur an Barbara Duden oder Gesa Lindemann.

Wenn Gransee nun mit ihrem Buch auch kein Tabu bricht, so gewährt sie doch in instruktiver Weise eine neue Sicht auf das Verhältnis von 'Natur' und Kultur, um von hier aus die Frage neu zu stellen, wie Geschlecht, also das Verhältnis von sex und gender zu bestimmen ist, "ohne dabei den Körper kulturalistisch zu einem ausschließlich intelligiblen Phänomen zu stilisieren." Gegen den "tendenziellen Idealismus des De-/Konstruktivismus" erinnert sie an die Einsicht des transzendentalen Idealismus, dass die Erkenntnis der Natur sich notwendig auf etwas bezieht, "das selber weder Begriff noch im Begriff einholbar ist". Sie rekurriert also auf Kants Unterscheidung zwischen dem Ding an sich und der Welt der Erscheinungen. Mit ihrer Hilfe will sie der Analysekategorie Natur wieder zu ihrem Recht verhelfen, allerdings auf ganz und gar unessentialistische Weise. Kants Unterscheidung, so führt sie zunächst aus, markiere die Grenzen möglicher Erkenntnis und möglicher Erfahrungen. Anschauungs- und Verstandesvermögen seien die subjektiven Bedingungen der Objektivität möglicher Erkenntnis. Das Ding an sich aber, Kant zufolge eine Denknotwendigkeit, bleibe unerkennbar, referiert Gransee. Allerdings zeigt sie nur den halben Kant. Heißt es bei ihm doch an entscheidender Stelle, dass "die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung [...] zugleich Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" sei. Dass Gransee diese andere Seite der kantischen Medaille nicht aufdeckt, überrascht. Denn gerade sie hätte die Autorin für ihre Argumentation gegen eine kulturalistische Verkürzung fruchtbar machen können. Stattdessen versucht sie Kants Transzendentalphilosophie mit de-/konstruktivistischen Ansätzen zu verknüpfen. Dort tauche sie in modifizierter Form wieder auf. Eine Behauptung, die sich nur schwer aufrechterhalten lässt, wenn man die transzendentale Ästhetik Kants als ganze nimmt und nicht als Steinbruch.

Um Kant, das heißt den halben Kant Gransees, für die gender-theoretische Diskussion fruchtbar zu machen, bedarf er nach dem Verständnis der Autorin jedoch noch einiger Korrekturen. Zunächst wird er mit Hilfe des dem Westlichen Marxismus zuzurechnenden Theoretikers Alfred Sohn-Rethel historisch-materialistisch abgestützt und sodann, wichtiger noch, in Auseinandersetzung mit Elvira Scheich und Donna Haraway de-/konstruktivistisch aufbereitet.

Gransees Theorie bedeutet alles andere, als eine unkritische Wiederaufnahme der Natur als des 'Ursprünglichen'. Stattdessen geht es ihr darum, auf die "Abstraktionen in naturwissenschaftlichen Denkmodellen" hinzuweisen, um so das Augenmerk auf das in ihnen negierte zu lenken: Die "Naturgebundenheit des Menschen". So gelangt sie zu ihrer These, dass die Denkannahme des "Abstraktums einer 'Natur an sich'" notwendig sei, "um die Abstraktionen von einer eben nicht restlos verfügbaren 'Natur' kritisieren zu können".

Jedes Unternehmen, das den Gegensatz von 'Natur' und Kultur "nicht nur als dilemmatische Konstruktion" begreifen will, sondern auch als gesellschaftliches Problem, so lautet Gransees Fazit, bleibt auf einen "Begriff von Natur als Grenzbegriff angewiesen". Denn Natur ist zwar ein soziales Konstrukt, doch bezieht sich dieses Konstrukt "auf 'etwas' was weder in Diskursivität aufgeht, noch in diese ganz eingeholt werden kann."

Aufgrund dieser Überlegungen hofft Gransee zuletzt sogar das politisch-feministische Subjekt wiedergewinnen zu können. " Die Unklarheiten und Unschärfen bezüglich der gestaltenden AkteurInnen ist [...] eine Folge der Verwerfung des transzendentalen idealistischen Subjektbegriffs." Werde er nämlich gemäß der "Kritik des idealistischen Identitätsbegriffs bestimmt negiert und in seiner Widersprüchlichkeit (Subjekt-Objekt) und Bezogen- und Dezentriertheit gefaßt und bewahrt", so Gransee in vager Abstraktheit, dann müsse nicht länger auf die "tendenziell idealisierende Vorstellung eines/r oppositionellen Anderen rekurriert werden."

Zwar schießt Gransee in ihrer Kritik an der "Naturvergessenheit" des durch Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen geprägten mainstreams der gender-Theorie weit über das Ziel hinaus, jedoch gelingt es ihr, den nichtessentialistischen Versuch, Natur als denknotwendigen erkenntnis- und kritikermöglichenden Grenzbegriff fruchtbar zumachen, durchaus plausibel vorzustellen.

Kein Bild

Carmen Gransee: Grenz-Bestimmungen.
Edition Diskord, Tübingen 1999.
224 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3892956642

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch