Die Arbeit des guten Europäers an der Religion

Nobert Bolz widmet sich dem Wissen der Religion

Von Mario WenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wenning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Religion ist wieder in Mode. Liebhaber wie Verächter verzeichnen eine Rückkehr der Religionen, die sich seit einigen Jahren auch im akademischen Diskurs in einer Fülle von Publikationen niederschlägt. Mit dem in Berlin lehrenden Medien- und Kulturwissenschaftler Norbert Bolz meldet sich nun eine Stimme zu Wort, die für ihre irritierenden Analysen des Zeitgeistes nicht nur berühmt, sondern auch berüchtigt ist. Auch in seinem neuesten Werk sorgt er für reichlich Diskussionsstoff.

Es handelt sich um eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive eines religiös Unmusikalischen, der "Betrachtungen über Fromme und Frömmelnde" anstellt. Auch Berufsagnostiker und "taktvolle Atheisten", wie Hans Blumenberg den neugierigen modernen Wissenschaftler einmal nennt, können religiösen Fragen gegenüber durchaus aufgeschlossen sein: "Atheisten können die Antworten des Glaubens negieren, aber nicht die Fragen." Bolz persönliche Antwort auf die Gretchenfrage: "Nun sag, wie hast du's mit der Religion?" ist ein Buch, welches zu lesen sich für den In- und Outsider lohnt.

Das Interesse an Religion ergibt sich für Bolz nicht aus den Antworten, die sich aus der Offenbarung herleiten lassen, sondern aus der Einsicht, dass das religiöse Fragen nach Sinn selbst Sinn macht. Für den säkularisierten Europäer, der sich seiner konfligierenden Wurzeln in Athen (griechische Philosophie) und Jerusalem (Christentum) bewusst ist, führt dies zu einer selbstkritischen Grundhaltung, die es so nur im Westen gebe: "Da die abendländische Kultur nun ihre christliche Grundlage nicht aufgeben kann und ihr Ideal der griechischen Antike nicht aufgeben will, ist sie in sich selbst kritisch."

Bolz argumentiert anthropologisch, indem er behauptet, dass sich der Absolutheitshunger durch den Säkularisierungsprozess nicht stillen lasse, schon gar nicht durch eine naturwissenschaftliche Entzauberung der Welt. Das den Religionen eigene Transzendenzbewusstsein ist für den Autor eine Konstante, eine "notwendige Illusion". Gnädiger Gott, gerechte Gesellschaft, heile Natur, wahres Selbst sind verschiedene Namen für dieselbe Tatsache: den Versuch des Menschen, sich über sein faktisches Selbst hinaus zu schwingen. Gerade der moderne Mensch sucht in der Religion Ganzheit und einen Ausweg aus der Einsamkeit des absoluten Ichs, das in einer kontingenten, zunehmend differenzierten Welt transzendental obdachlos geworden ist. Die "fundamentale Trostbedürftigkeit" verlangt nach einer neuen religio, einer höheren Bindung.

Bolz' Analysen gegenwärtiger religiöser Praktiken sind bestechend und aufschlussreich. So veranschaulicht er, dass der liebe Gott des heutigen diffus humanistischen Christentums und der absolute Gott der dogmatischen Fundamentalisten Komplementärphänomene sind. Diese auf den ersten Blick verblüffende These wird damit gerechtfertigt, dass der "neutrale Kult des Menschlichen" des heutigen Christentums es nicht vermöge, Halt und Orientierung zu geben. Die durch den Wegfall der vormals religiös oder weltanschaulich gesicherten Ordnung aufgerissene Lücke könne leicht durch Fundamentalismen gefüllt werden. Insbesondere der Absolutheitsanspruch universalistischer Religionen führe dabei zu erhöhter Gewaltbereitschaft. Dies sei zumindest für lebendige Religionen zutreffend.

Lebendigkeit will Bolz dem zur Zivilreligion verkommenen Christentum freilich nicht mehr zubilligen. Anders sieht es mit dem Islam aus. Letzterer sei "nicht eine Religion unter anderen, sondern die weltweit dynamischste und selbstbewussteste". Die gegenwärtige Schwäche des Christentums führe aber nicht etwa nur negative Konsequenzen mit sich. Die dialektisch Pointe, die Bolz aus der humanistischen Entkernung des Christentums zieht, ist, dass nur schwache Kirchen überleben, da starke religiöse Motivationen zur Sektenbildung tendiere. Zudem hätten es die letzten Päpste meisterhaft verstanden, den Kampf um die knappe Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für sich zu entscheiden. Durch Riten und den Unfehlbarkeitsanspruch wissen sie sich als Fels in der Brandung in der Figur des Katechon, des Aufhalters teuflischer Kräfte, medienwirksam zu inszenieren.

Bolz bricht Tabus und wehrt sich gegen jedwede politische Korrektheit. Das Resultat ist nicht selten ein pauschalisierendes Urteil wie etwa: "Der islamistische Terror verdeckt nämlich das eigentliche Problem: den Islam." Ziel solle nicht etwa eine Diskussion mit dem vom Autor zum Kollektivsingular reduzierten Islam sein, sondern eine Diskussion über die Rolle dieser "fanatischen" Religion in Europa und der Welt. Da der Islam, wie das Christentum vor der Aufklärung, keine Trennung von Politik und Religion vorsehe, so Bolz, sehen wir uns bis auf weiteres mit einem "kalte(n) Krieg zwischen Europa und dem Islam" konfrontiert. Da sich der Islam - im Gegensatz zum Christentum - noch ernst nehme und höchst lebendig sei, versuche er die durch einen privilegierten Zugang zur Wahrheit gewonnenen Erkenntnisse gewaltsam gegen den "ungläubigen" Westen durchzusetzen. Deutlich wird aus solchen Kassandrarufen allerdings nicht, wie die bevorzugte Alternative zu einem Kalten Krieg der Religionen aussehen könnte. Ohne die vom Autor geleugnete Möglichkeit interreligiöser Verständigung käme da wohl nur ein offener Konflikt in Frage.

In solchen Urteilen zeigt sich, dass Bolz als "guter Europäer" mit Schützenhilfe von Carl Schmitt aufwartet. Den hat er neben anderen Extremisten zwischen den Kriegen schon in seiner Habilitationsschrift "Auszug aus der entzauberten Welt" behandelt und knüpft daran an: "Feindvergessenheit ist der Sieg des Teufels. Deshalb muss der Kampf gegen den Teufel mit der Bestimmung des Feindes beginnen." Das belanglose Gespräch von gutgläubigen Akademikern und politisch korrekten Politikern über Toleranz zwischen den Religionen funktioniere nur, so lange es nicht um Fragen der Macht und der Entscheidung gehe. Daher sei der Gedanke der Weltreligion nichts als "Esperanto der Theologen".

Statt einer theoretischen Totgeburt zu Zwecken der Völkerverständigung scheint sich der religiös unmusikalische Autor nach einer dogmatischen Aufrüstung des Christentums zu sehnen: "Dass Gott kein netter Papa ist und Jesus nicht sozial war, wagt die Kirche heute kaum mehr auszusprechen." Bolz hat es offensichtlich nicht mit Seelsorge und Diakonie, sondern trauert "großen Themen" wie Kreuz, Erlösung, Gnade, Teufel und Apokalypse nach. Auch die Ökologiebewegung und die im Nachkriegsdeutschland perfektionierte Kultur der Betroffenheit und des Gutmenschentums entlarvt er als Religionsersatz.

Anknüpfend an sein erfolgreiches Buch "Das konsumistische Manifest" skizziert Bolz gekonnt die religiösen Grundzüge der kapitalistischen Lebensform. Als neuheidnische Religiosität verzichtet diese auf Dogmatik und Offenbarung und begnügt sich stattdessen mit dem Kult der Warenfetischisierung: "Düfte heißen Ewigkeit und Himmel, Zigaretten versprechen Freiheit und Abenteuer, Autos sichern Glück und Selbstfindung. Mit einem Wort: Marken besetzen Werte, um sie schließlich zu ersetzen. So entfaltet sich heute der Konsumismus als die Religion der Gottunfähigen."

Seine zugespitzt polemische Darstellung bedient nicht selten Klischees. Der Titel des Bands ist zudem irreführend, da sich Bolz nur mit dem Christentum und seinen Ersatzreligionen im Westen auseinandersetzt. Außer dem Schreckgespenst Islam tauchen andere Weltreligionen gar nicht auf. Es mag natürlich auch sein, dass Bolz das Christentum als "die Religion" begreift oder als die einzige Religion, die ein Wissen beanspruchen kann. Auf eine religionswissenschaftliche Quellenanalyse, die ein solches Wissen herausarbeiten könnte, wird jedoch verzichtet.

Liest man das Buch jenseits aller europatriotischen Prätention und Pauschalisierung als einen kulturkritischen Spiegel westlicher Religiosität, ist es aber nicht nur schlagfertig, sondern Augen öffnend. In den Neubeschreibungen moderner Institutionen und Alltagspraktiken vom Blickwinkel einer Säkularisierung theologischer Begriffe werden aus Kirchen Konsumtempel; das Einkaufen von Bio und Öko wird zu einer Erlösung von der Erbschuld; aus dem alljährlichen Urlaub wird eine Wallfahrt; das Fotoalbum wird zum Ersatzfriedhof.

Dass die modernen Religionssurrogate keinen zufrieden stellenden Religionsersatz bilden, liegt an ihrer Unfähigkeit, eine wirkliche Selbsterfahrung durch Selbsttranszendenz zu ermöglichen. In Zeiten der Selbstverwirklichung bleibt es bei dem, was Eric Voegelin "Egophanie" nennt, also einer Form inneren Götzendienstes, bei dem das eigene Ich nicht über sich hinauszugehen vermag.

Was das Buch elegant vor Augen führt, ist, dass dem Dickicht der Religion nicht etwa mit Aufklärung, Skepsis und Kritik beizukommen ist, wie es etwa Richard Dawkins in seinem Bestseller "Der Gotteswahn" versucht. Dazu ist unsere Geisteswelt, inklusive der Aufklärung, zu sehr durch Glaubensansprüche gekennzeichnet. Nietzsches berühmter Ausspruch "Gott ist tot" signalisiert kein Ende der Religion, sondern ihre Transformation in Religiosität, die Bolz als "Boutique-Religion" bezeichnet. Religion lebt nach ihren wiederholten Tötungen fort, sei es als Erinnerung oder Wiederkehr des Verdrängten.

Norbert Bolz plädiert dafür, sich für die "unvergleichliche Eigenart" westlicher Kultur, ihrer Kritikfähigkeit einzusetzen und sich der Spannung aus Athen und Jerusalem zu stellen. Einen solchen Akt kritischer Verantwortung mit Max Weber als "gereifte Männlichkeit" zu bezeichnen, muss man nicht unbedingt gut finden. Doch die bestechende Beobachtungsgabe des Autors beweist, dass der Mangel religiöser Musikalität keineswegs davon abhalten muss, ein Hörer zu sein, dem sich religiöse Phänomene auf eine Weise erschließen, wie dies aus der Innenperspektive - gewissermaßen aus dem Orchester der Gläubigen - vielleicht nicht möglich wäre.

Trotz seiner Unfähigkeit zu glauben straft Bolz Religiosität nicht mit unterschwelliger Verachtung. Im Gegenteil. Als Europäer ist er voller Bewunderung für die "einmalige evolutionäre Errungenschaft" der 2-000-jährigen christlich geprägten Kultur. Die patriotischen Töne des letzten Satzes lassen allerdings daran zweifeln, dass er das kulturelle Erbe der Selbstkritik eben so hoch hält: "Es ist der Stolz des guten Europäers, an der objektiven Religion zu arbeiten. Wer diese Herkunft hat, braucht keinen Ruhm." Auch wenn man mit dem Autor nicht immer einer Meinung sein kann, ist die Lektüre dieser provokanten Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Rolle der Religion anregend und wärmstens zu empfehlen.


Titelbild

Norbert Bolz: Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
163 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783770546763

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