Das fremde Geschlecht

Nicholas Murray untersucht das Thema "Kafka und die Frauen"

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den kaum noch zu überblickenden Kafka-Titeln ist der über Kafka und die Frauen einer der beliebtesten. Hier scheint man am ehesten die Privatperson, den "Menschen" Franz Kafka zu fassen bekommen, der sich doch in seinem literarischen Werk so sorgfältig verbirgt. Aber auch das ist ein Trugschluss. Selbst der Briefschreiber Kafka besteht aus Literatur, versucht seine Figur zu umschreiben und zu definieren, mit metaphorischen, parabolischen oder rhetorischen Kunstgriffen, und der Partner dient lediglich als Spiegel, der das Bild der Selbstinszenierung auf den Regisseur und Schauspieler zurückwerfen soll. Küsse und der weibliche Schoß bleiben in den Briefen immer Metaphern, Liebes-Rhetorik aus sicherer Distanz.

Der britische Autor Nicholas Murray, der neben literarischen Texten auch Biografien - so von Aldous Huxley - veröffentlicht hat, legte 2004 eine neue Biografie über "Kafka und die Frauen" vor, die jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen ist. In vier umfangreichen Kapiteln - Prag (91 Seiten), Felice Bauer (128 Seiten), Milena Jesenska (71 Seiten), Dora Diamant (28 Seiten) - gibt er einen Lebensabriss des Prager Dichters und seiner drei wichtigsten Frauenbeziehungen, das ganze heute zur Verfügung stehende Quellenmaterial ausschöpfend und daraus seine - vorsichtigen - Schlüsse ziehend.

Es ist ja bekannt, dass Kafkas Beziehungen zum anderen Geschlecht nicht nur an seiner widersprüchlichen Einstellung zu Sexualität, Junggesellentum und Ehe, sondern auch daran scheiterten, dass er fürchtete, der Anspruch einer Frau auf sein Leben könne sein Schreiben gefährden. Aber auch mit dem Schreiben als der anderen Existenz hatte er ja mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie im Leben. Kurze Texte gelangen ihm manchmal auf Anhieb, manche überarbeitete er oft. Aber das große Werk, der Roman, wurde trotz pedantischer Arbeit nie fertig. Kafka selbst nannte das die "Schwierigkeit der Beendigung", aber auch "das Unglück des fortwährenden Anfangs". Diese Worte kann man auch auf seine Frauenbeziehungen übertragen.

Kafka investierte - so stellt Murray fest - in seine Brieffreundschaft mit Felice Bauer, der Berliner Prokuristin, die er erst ein einziges Mal am 20. Februar 1912 gesehen hat, so viel Energie und Zeit, dass für die Fertigstellung von "Der Verschollene" nicht viel übrig blieb. Er beteuerte ihr seine unerschütterliche Liebe und zählte zugleich seine "augenblicklichen, wirklichen oder eingebildeten Leiden" auf: seine angeschlagene Gesundheit, Schwierigkeiten mit ihr, mit dem Schreiben, mit seiner Familie, mit der Arbeit, das Problem, an einem Ort - in Prag - festzusitzen, er zeichnete das Porträt des einsamen Kafka, der sich in klösterlicher Abgeschiedenheit der Kunst des Schreibens widmete, das Bild des leidenden Hypochonders oder gab seiner Angst Ausdruck, dass ihre Beziehung gefährdet würde, wenn sie dauernd zusammen wären. Das gewaltige Ausmaß des Briefverkehrs mit Felice verdankt sich ihrer körperlichen Abwesenheit. Die durch sie gegebene Verbindung aus menschlicher Nähe und Distanz wurde für Kafka zur einigermaßen erträglichen und daher fast idealen Bedingung einer literarischen Existenz. Nur in dieser prekären Balance überhaupt ließ sich ein Liebesverhältnis so lange aufrecht erhalten, das Kafka nach dem zweiten Besuch in Berlin mit dem Satz charakterisiert: "Ohne sie kann ich nicht leben, und mit ihr auch nicht".

Zehn Monate nach der ersten Begegnung und nach insgesamt nur drei Treffen mit ihr unter nicht gerade glücklichen Umständen machte er ihr einen Heiratsantrag. Und beginnt zugleich mit dem von nun an zäh geführten Kampf, seine Untauglichkeit für die Ehe nachzuweisen. Schon eine Woche nach ihrer ersten Begegnung hatte Kafka eine erstaunlich kalte Porträtskizze von Felice Bauer entworfen: "Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene Bluse". Dann unterbricht er sich erschrocken: "Ich entfremde mich ihr ein wenig dadurch, dass ich ihr so nahe an den Leib gehe". Entfremdung also durch Nähe? Aber es geht ja hier nicht um die Begegnung mit einer leibhaftigen Frau, sondern um die literarische Fixierung einer Frauengestalt, die irgendwo einmal in der noch zu schreibenden Prosa eine Verwendung finden könnte. Äußerste Nähe im Text setzt voraus und produziert Entfremdung von der Realität. Weiblichkeit wird zur Schreibaufgabe, zum Versuch, das ganz Andere, Fremde des Geschlechts sprachlich zu artikulieren und zu bearbeiten, um es sich vom Leibe zu halten und doch - scheinbar wenigstens - anzuverwandeln.

Diese paradoxe Beziehung von Nähe und Ferne, diese Inszenierungen von Fremdheit und Distanz durch eine gestisch vollzogene Selbsterniedrigung des Briefschreibers und die dem Adressaten damit zugeschobene Erhabenheit und Souveränität, dieses Spiel zwischen Höhe und Tiefe wird sich durch die Briefe an Felice hinziehen bis zu den Unterwerfungsbildern für Milena, zu deren Füßen er schließlich als Waldtier im Dunkeln liegt.

Der Autor des "Urteils" - hier lässt sich der Bräutigam Georg Bendemann zum Tod durch Ertrinken verurteilen - sitzt am 1. Juni 1914 als Verlobter in Berlin, "gebunden wie ein Verbrecher". Gleich in seinem ersten emphatischen Silvesterbrief an Felice hatte er sich mit ihr an den Handgelenken zusammengebunden vorgestellt: auf dem gemeinsamen Weg zum Schafott. Das Bild der Stricke, der Ketten wird immer wieder auftauchen, wenn der Junggeselle seine Angst vor Fesselung ans Leben, vor Bindung an bürgerliche Normalität und an Frauen in Sprachbilder projiziert. Kafkas andere Angst vor dem fremden Geschlecht, die er in seine Überlegungen zur möglichen, drohenden Heirat aufnimmt: "Die Angst vor der Verbindung, dem Hinüberfließen".

Sechs Wochen später wurde nach einer anklagenden Auseinandersetzung im "Askanischen Hof" die Verlobung wieder aufgelöst und Kafka spricht im Tagebuch von einem "Gerichtshof im Hotel", von dem er sich widerstandslos verurteilen ließ. Diese Aussprache hat ihm zugleich für die Entstehung des Romans "Der Prozess" einen Impuls geliefert. Im Juli 1916 kam Felice abermals nach Prag und die beiden verlobten sich ganz offiziell zum zweiten Mal. Sollte der fünfjährige Kampf doch noch ein glückliches Ende finden? Im Blutsturz aus der Lunge am 9./10. August 1917 sah Kafka die Kulmination seines fünf Jahre währenden Ringens um die Ehe mit Felice. Das Schicksal hatte entschieden, in seiner Krankheit sah Kafka "zweifellos Gerechtigkeit, es ist ein gerechter Schlag, den ich...als etwas ...durchaus Süßes (fühle)". Die Lungenwunde sieht er als Sinnbild an, "deren Entzündung Felice und deren Tiefe Rechtfertigung heißt", schreibt er ins Tagebuch. Die Krankheit hatte ihn befreit, die selbstquälerischen Zweifel von ihm genommen. In Zürau lebte er nun mit der Schwester Ottla "in kleiner guter Ehe" und genoss die ländliche Idylle. Murray geht aber mit keinem Wort darauf ein, dass Kafkas Verhältnis zu Felice wohl auch von seiner Schwesterbeziehung mit präformiert gewesen zu sein scheint.

Das Milena-Erlebnis sollte dann seine innere Erstarrung lösen, denn Kafka konnte der unkonventionellen Milena Pollok gegenüber - sie lebte mit ihrem Mann in Wien, stammte aber aus Prag - so frei sprechen wie zu niemandem zuvor. Aber die Briefe an Milena waren ihm "immer noch viel zu wenig Wahrheit, immer noch allermeistens Lüge". Milena, die erste und einzige Nichtjüdin in Kafkas Leben, repräsentierte für Kafka die Fülle des Lebens - sie ist für ihn ein "lebendiges Feuer", zu viel Feuer für den seelisch und körperlich angeschlagenen Kafka -, während er sich ihr gegenüber als Nichts fühlte, das kein ernstzunehmender Partner sein könnte.

Obwohl die jahrelangen negativen Erfahrungen mit Felice nicht gerade eine Wiederholung des Heiratsversuches nahe legten, wollte er 1919 Julie Wohryzek zu seiner Frau machen - obwohl Kafka und Julie in den drei Wochen in Schelesen sich kein einziges Mal geschrieben haben, "flogen" sie in Prag "zueinander wie gejagt" - doch dann lebte Kafka wieder mit der verheirateten Milena zusammen. Milena war ihm als Rettung erschienen, aber hatte er das Recht, ihr Erlösungsangebot anzunehmen, fragt Murray. Kafka empfand es als peinigend, dass jetzt, wo ihn seine Kräfte in Stich zu lassen drohten, plötzlich ein Hoffnungsstreif am Horizont auftauchte. Die Begegnung in der Grenzstadt Gmünd am 14./15. August wurde ein Desaster und so zum Wendepunkt. Die stürmischen Liebeserklärungen wurden durch die vertrauten, ausgedehnten Analysen dessen ersetzt, was falsch und verfehlt war, während die Beziehung allmählich auseinander zu brechen begann. Mit dieser demonstrativen Zurschaustellung der eigenen Schwäche, seinem Selbstporträt als verängstigtes Tier konnte diese starke, energische Frau nichts anfangen, so befindet Murray, wie sehr sie ihn auch als Schriftsteller und Intellektuellen verstand und schätzte. Die jedes Mal mit dem Scheitern verbundene Krisensituation musste zu Selbstreflexionen führen, die sich beide Male in den Tagebüchern niederschlugen. Dabei fand bei Kafka eine immer deutlicher vollzogene Einschränkung der Lebensmöglichkeiten statt, eine Reduktion auf seinen inneren Kern.

Nach der überstandenen Katastrophe mit Milena sollte er Max Brod gestehen, "dass der Körper jedes zweiten Mädchens mich lockte". Nur ausgerechnet Felice und Milena schienen nicht zu locken, denn seiner "Würde wegen", seines "Hochmuts wegen" könnte er "nur das lieben, was ich so hoch über mich stellen kann, dass es mir unerreichbar ist". Von solch hochgestellten Frauen, vor denen er sich aus "Würde" und "Hochmut" erniedrigt, kann er nicht mehr in den "Schmutz" sexueller Intimität hinab gezogen werden. Was ihn immer wieder und am tiefsten geschreckt und gelockt hat: "Die geplatzte Sexualität der Frauen. Ihre natürliche Unreinheit". Dort, wo die Beziehungen anscheinend harmonisch ineinander aufzugehen schienen, hatte er immer wieder die Störung, die Dissonanz gesucht, aus der heraus und auf die zu Kafka schreiben musste und auch wollte.

Kann dann die selbstbewusste und tüchtige Dora Diamant Kafka aus den Gedanken reißen, dass ihm die "Menschenwelt" zusehends entgleite? Kann er mit ihr der Wiederholung alter Lebensmuster entgehen? Dora war 25 und Kafka soeben 40 geworden, als sie sich im Juli 1923 an der Müritz kennen lernten und dann zusammen in Berlin lebten. Während ihn ihre ostjüdische Herkunft neugierig machte, strebte sie nach der Freiheit und aufgeklärten Lebensweise des Westens. Sie konnte es an literarischer Bildung mit Milena nicht aufnehmen und zeigte selbst nach Kafkas Tod wenig Sinn für sein schriftstellerisches Werk. Sie schätzte mehr den Menschen Kafka, seinen außergewöhnlichen Charakter - und Kafka wiederum schöpfte aus ihrer Energie neue Kraft. Sie war die einzige Frau, mit der er je zusammenlebte. Seine früheren Beziehungen, zumal jene mit Felice, waren an seiner Angst gescheitert, zu große Nähe könnte sein Schreiben und damit ihn selbst auf unerträgliche Weise gefährden. Doch Dora hatte plötzlich von seinem Leben Besitz ergriffen - und dies schien ihm keinerlei Probleme bereitet zu haben. In ihr schien er gefunden zu haben, was er sein Leben lang vermisst hatte: eine natürliche, verständnisvolle Partnerin. Durch die Liebe zu Dora war Kafka nicht nur der Einsamkeit entronnen, sondern auch Prag. "Ich möchte wohl wissen, ob ich den Gespenstern entkommen bin", habe er immer wieder gesagt, so erinnerte sich Dora später. Nein, die Gespenster tanzten noch immer. Die besorgniserregende Krankheit erzwang Mitte März 1924 eine Rückkehr nach Prag und von dort weiter - hingebungsvoll von Dora umsorgt - ins Sanatorium in Kierling, wo er am 3. Juni, einen Monat vor seinem 41. Geburtstag, stirbt.

Murray ist kein Mann vorschneller oder kühner Urteile und Schlussfolgerungen. Alle seine Äußerungen sind quellenmäßig belegt und nachweisbar. So wird der Kafka-Spezialist wenig Innovatives in seinem Buch finden. Aber dem an Kafka interessierten Leser eröffnet sich eine wahre Fundgrube von Informationen, die unerlässlich auch für die Lektüre des schriftstellerischen Werkes von Kafka sind. Zweifellos hätte sich das Thema "Kafka und die Frauen" auch weiter ausdehnen lassen auf andere Frauenbeziehungen im Leben Kafkas - warum nicht auch auf die Lieblingsschwester Ottla? - oder überhaupt auf Frauengestalten in seinen Prosatexten. Aber das hätte wohl der Logik und Überschaubarkeit des Themas Abbruch getan.

In welcher Weise aber die Beziehungen zu Felice und Milena auch literarische Auswirkungen gehabt haben, welche Metamorphosen sie im Werk Kafkas erlebten, kommt jedoch entschieden zu kurz. In wenigen Sätzen geht Murray zwar immer auf die die Frauenbeziehungen begleitenden literarischen Texte ein, stellt aber keine Untersuchungen darüber an, wie Kafka Felice oder Milena in seinen Texten konterfeit hat beziehungsweise welche Parallelen sich zur Geschichte der Beziehung zwischen Kafka und Felice ergeben, wie sie seinerzeit Elias Canetti in Teilen des "Prozess"-Romans gesehen hat. Hatte Kafka die erste Trennung von Felice mit der Niederschrift des "Prozesses" beantwortet, so verarbeitete er die zweite in den Zürauer Aphorismen. War "Der Prozess" eben auch der Versuch, den Abbruch der Beziehung zu Felice literarisch zu bewältigen, so dürfte "Das Schloß" auch als Versuch zu werten sein, sich über die Gründe des Scheiterns der Liebe zu Julie Wohryzek und vor allem zu Milena Klarheit zu verschaffen. Allerdings widersetzt sich Kafkas Spiel mit autobiografischen Signalen immer wieder einer direkten autobiografischen Entschlüsselung, auch wenn Kafka in vielen seiner Geschichten unverkennbar seine eigenen Konflikte durchgespielt hat. Hier hätte sich in der Tat ein spannendes, neue Deutungen und Wertungen erheischendes Thema aufgetan. Doch der Gebrauchswert und die Nützlichkeit der Murray'schen Biografie soll damit in keiner Weise bestritten werden.


Titelbild

Nicholas Murray: Kafka und die Frauen. Felice Bauer, Milena Jesenská, Dora Diamant Biographie.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2007.
350 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783538072428

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