Ein Anklang fortwährenden Daseins

Der von Detlev Schöttker herausgegebene Sammelband "Adressat: Nachwelt" behandelt die Bedeutung von Briefen für die postume Präsenz von Dichtern

Von Berndt TilpRSS-Newsfeed neuer Artikel von Berndt Tilp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Brief als Gattung ist in der Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft über lange Zeit nicht viel Beachtung geschenkt worden. Gemessen an der Trias von Roman, Drama und Gedicht befand er sich in den Wissenschaftsperioden vor und nach 1945, die sich im Nachhall der Germanistik als Goethephilologie vorrangig der geisteswissenschaftlichen Durchdringung literarischer Werke widmeten, durch die Wahrnehmung als biografisches Dokument nicht im Untersuchungsfokus. Erst in den 1970er-Jahren wurde von Wolfgang Frühwald und anderen die editionsphilologische Problematisierung des Briefes als Werkbestandteil entdeckt und seine hermeneutische Deutung angestoßen, für die gleichwohl Edition und Kommentar im Vordergrund standen. Mittlerweile ist der Brief aus der Peripherie ins Zentrum gerückt und sein Potential als literarische Form, in der der Schriftsteller nicht als Schreiber, sondern vielmehr als Autor agiert, auch um - sub specie aeternitatis - die postume Rezeption günstig zu steuern, gerät deutlicher ins Blickfeld der Zunft.

Dies an Einzelfallbeispielen zu vertiefen, unternimmt nun der von Detlev Schöttker herausgegebene Sammelband, der auf ein Kolloquium an der TU Dresden im Herbst 2004 zurückgeht. Es wird hier vor allem an kanonischen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts gezeigt, wie zum einen Autorschaft als Botschaft und zum anderen epistolare Überlieferung konstruiert wird, um dem Wusch nach dauerhafter Präsenz entsprechen zu können. Dabei sind es die splendiden Einzelbetrachtungen, die die Publikation ausmachen, indem sie Tendenzen und Verwerfungen zeigen und so einem aktuellen Verständnis der formal und inhaltlich hybriden Gattung Brief zwischen Tagebuch, Autobiografie, Essay, Montage und Collage zuarbeiten.

Sei es nun der Blick auf Martin Heidegger und Carl Schmitt mit grundsätzlich verschiedenen Nachlass-Konzeptionen zwischen Editions- und /oder Interpretationspolitik (Reinhard Mehring), sei es Kleists exzentrische Präformierung der Selbstdarstellung im Vorfeld seines Selbstmords (Günter Blamberger), seien es Strategien zur Ruhmbildung bei Bettine von Arnim mittels Goethe (Wolfgang Bunzel) - Autoren sorgen sich um die Dunkelheit von Leben und Werk, die nach ihrem Ableben entstehen kann und wird; im Falle Rudolf Borchardts, wie Klaus Schuhmacher zeigt, versucht ein Autor schon zu Lebzeiten, der Rezeption im nationalsozialistischen Deutschland durch "signorile" Briefe aus Italien (erfolglos) entgegenzuwirken. Beiträge zu überlieferungsbezogener Archivierung beziehungsweise Archivkonzeptionen bei Goethe, Jünger und Kempowski (Dirk Hempel) sowie Aufsätze zur Materialität des Briefes (Rainer Baasner, Heike Gfrereis) runden das Bild ab.

Doch vor allem dort, wo es um archivalische, editorische und materiale Perspektiven auf das Werk eines Autors geht - und gerade Goethe ist hierfür ein herausragendes Beispiel -, wäre der Verweis auf die Praktiken der postumen Herausgeber in dieser sehr "materialen Diskurspraxis" (Friedrich Kittler) bereichernd gewesen. Wie viele Anweisungen Goethes zur Edition seiner Werke wurden nicht ignoriert, wie viele gerade seiner von personenkundlichen Delikatessen vollen Briefe wurden nicht gekürzt, anonymisiert, geglättet, und sind so verstümmelt zugänglich gemacht worden! Und auch Reinhard Mehring selbst bemerkt in seinem Beitrag, dass Heideggers Weisungen aus dem Jahr 1974 noch nicht publiziert sind und mangelnde Verfügungen wie im Fall Schmitts zu teilweise apologetischen Verzerrungen führten. Sicherlich ist Autorschaft Werkherrschaft, aber wäre nicht auch die Archivherrschaft zu bedenken, um ein vollständiges Bild zu vermitteln? Den Mittlern zwischen Autor und Nachwelt, sei es nun der Schriftsteller selbst als Autor seiner Briefe oder als Editor, seien es die Nachlassverwalter - den Techniken und Absichten des Korrigierens, Kompilierens und Kollationierens hätte man beispielhaft mehr Raum geben können.

Umso luzider sind deshalb Rainer Baasners Erläuterungen zur epistolaren Materialität und Medialität sowie Heike Gfrereis' Darstellung nonverbaler Kommunikationsverfahren. Gfrereis stellt die ursprüngliche Beschaffenheit des Briefes und die materialen Überlieferungsträger in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen und misstraut dabei dem bloß gedruckten Text im Unterschied zum Faksimile im Spannungsfeld von (Schreib-) Produkt und Prozess. Diesen Befund eines prozessualen Verständnisses von Literatur und damit augenfällig der hybriden Gattung Brief in ihrer prozessualen Beschaffenheit, wie er in jüngste Faksimileausgaben Eingang gefunden hat, konterkariert der Beitrag von Bernhard Zeller - will man diese Veröffentlichung in Anlehnung an den Titel seines Aufsatzes von 1975 nicht selbst als ein "Monument des Gedenkens" für einen Doyen der Editionsphilologie in Deutschland verstehen -, denn gerade in den letzten Jahren hat die Editionsphilologie als Grundlagenwissenschaft wesentliche Veröffentlichungen vorgelegt, die hier freilich noch nicht berücksichtigt sind und die Studienanfänger irritieren können.

Authentizität versus Manipulation, Ruhm versus Nachruhm: die meinungsbildende Kraft von Nachlass- und Editionspraktiken - die im Band angesprochene epistolare Selbstinszenierung Kleists als nonkonformistischer Intellektueller und Außenseiter und die nach Goethes Worten von "Abscheu und Ekel" gesteuerte postume Rezeption von (vor allem) Leben und Werk ist hier nur ein Beispiel - ist nicht zu unterschätzen. Das ehedem Geheimgehaltene und Private kommt erst dann ans Licht der Öffentlichkeit, wenn Original und Manipulation nebeneinander gehalten werden können. Mutatis mutandis ist dies sinnfällig in Schillers zwei Schädeln der Fall, der eine die Reliquie des Geistesheroen mit makellosen Zähnen, der andere mit Überbiss: Wie soll und darf er uns nun historisch werden?


Titelbild

Detlev Schöttker (Hg.): Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
234 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545674

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