Abgründe des Gebens, Nehmens, Dankens

Gisela Ecker analysiert scharfsinnig literarische Inszenierungen von Tauschprozessen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur für den naiven, idealistischen Blick bildet die schöne Literatur ein heiles Gegenreich zur rauhen Welt des wirtschaftlichen Handelns. Bei genauerem Lesen und schärferem Nachdenken zeigt sich, dass eine Vielzahl literarischer Werke hoch reflektiert von ökonomischen Basisphänomenen wie Schenken und Tauschen, Arbeiten und Konsumieren, Zahlen und Nicht-Zahlen (Können) oder Knappheit und Überfluss handelt. Schon in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist es alles andere als ausgemacht, welche Aspekte und Begriffe des Wirtschaftsprozesses denn eigentlich die wesentlichen sind. Um so mehr gilt diese Unbestimmtheit und Offenheit der 'Ökonomie' für Literatur- oder Kulturwissenschaftler, die sich der Inszenierung wirtschaftlicher Praktiken in Texten und Kunstwerken widmen.

Als heuristisch äußerst fruchtbar erwies es sich schon wiederholt, das intrikate Gegen- oder Zusammenspiel von Gaben- und Tauschprozessen in Kulturen oder Kunstwerken zu untersuchen. Im Anschluß an Marcel Mauss' bahnbrechende sozialanthropologische Studie über "Die Gabe", des weiteren an Georges Batailles Denken der Verausgabung und an Jacques Derridas strengere Kriteriologie einer (nahezu unmöglichen) Gabe, die den Tausch- und Anerkennungszirkeln tatsächlich entkommen könnte, haben sich schon einige Literatur- und Kulturwissenschaftler den Gabenprozessen in und um die Künste gewidmet. Doch kaum eine der vorhergehenden Untersuchungen hat die Ambivalenzen der Gaben so nüchtern und scharfsinnig analysiert wie Gisela Ecker in ihrer Studie zu "Giftigen Gaben". Mit dem titelgebenden, etymologisch gegründeten Wortspiel der 'giftigen' Gaben indiziert Ecker, dass Gaben fast immer ambivalenten Intentionen der Geber folgen oder vertrackte Effekte bei den Empfangenden zeitigen. Gute (oder gutgemeinte) Gaben können schnell in schlechte (weil fesselnde oder aggressive) Gaben umkippen. Der Doppelsinn von "Giftige Gaben" meint mithin die Untersuchung von komplizierten, listigen, zerstörerischen, berechnenden Gaben, die häufig als Erzählanlässe fungieren. Unter ,giftig' versteht Ecker die Störfaktoren, die eine ideale, reine, störungsfrei ablaufende, uneigennützige Gabe durchkreuzen. Literatur inszeniert und Ecker analysiert Abweichungen von der Idealität der Gabe, die als moralisches Gebot der Barmherzigkeit bekanntlich die Grundlage jüdisch-christlichen Heilsökonomie ausmacht.

Neben der Inszenierung von Gaben-Zirkulation oder Tauschprozessen auf der Ebene der Plots von Erzählungen wurde die Produktion und Verbreitung von Kunst oder Literatur selbst häufig als eine anökonomische, ästhetisch interesselose, freigiebige Handlungsweise aufgefasst - etwa von einer soeben in deutscher Übersetzung publizierten, älteren Studie von Lewis Hyde, die freilich in der diffusen Schwammigkeit ihrer Kategorien und Argumentationen in keiner Weise an den ökonomischen und ästhetischen Scharfsinn heranreicht, der Derridas Schriften zur Gabe kennzeichnet und nun auch Gisela Eckers kluges Buch zu einer vorzüglichen Lektüre macht. Bataille erläuterte den Zusammenhang von Lust und Verlust/Opfer und bezeichnete diese anökonomischen Operationen als Poesie, als Schöpfung durch Verlust. Auch diesem Aspekt der Kunst als Gabe widmet sich Ecker in einem Kapitel über Hilda Doolittle, in dem es um die Gabe-Struktur künstlerischer Begabung, um familiäre Gabe-Ökonomien sowie um traumatische Schreibanlässe und innovative Schreib-Ökonomien geht. Und zudem in einer wunderbar umsichtigen Interpretation von Karen Blixens Meistererzählung "Babettes Fest", deren verschwenderische Festhandlung auch zu opulenten Verfilmungen einlud. Hier wird die verkannte (Koch-) Kunst als eine Gabe inszeniert, die gerade weil ihr Publikum (lauter gastrosophische Ignoranten) ihren Wert weder zu schätzen noch gar sprachlich zu fassen vermag, eine besonders reine, nicht auf Anerkennung und Rückerstattung spekulierende Gabe ist.

Ecker untersucht gleichermaßen Gabe-Szenarien in literarischen Werken, deren erzählerische Rahmung sowie die Gaben-Rahmen der Kunstproduktion selbst. In einem einleitenden Kapitel rekapituliert die Komparatistin kurz die wichtigsten Theorien der Gabe (Mauss, Derrida, Bourdieu) und weist überzeugend darauf hin, dass der Traum von einer 'reinen', interesselosen Gaben ein Phantasma ist, das sich dem Wunsch nach einer (antikapitalistischen) Gegenökonomie verdankt. In den Schriften zur Gabe wird dem Objekt des schenkenden Gebens gemeinhin eine Art emotionaler Mehrwert gegenüber einer einfach käuflichen Ware attestiert. Doch auch dies ist nicht unumstritten, da Daniel Miller gerade gegenläufig einen Mehrwert der gekauften und somit ausgewählten Objekte attestiert und zudem auf die ungeschriebenen Gesetze des Gabentauschs hinweist. Ecker zeigt mithin, dass dem Geben und Schenken nicht nur zahlreiche romantisierende Konnotationen anhaften, sondern dass der Gabe Wesenskern selbst in einer Verschleierung spezifischer Tauschlogiken bestehen könnte, die auf Macht und Bindungen beruhen und somit weniger frei und generös funktionieren als die verteufelte Geld- und Marktwirtschaft.

Am eklatantesten lässt sich die interessegeleitete Einschreibung vermeintlicher Gaben in eigennutzorientierte Tausch- oder gar Ausbeutungsverhältnisse an den Geschenken kolonialer Entdecker und Eroberer aufweisen. Die billigen Gastgeschenke, die Seefahrer und Kolonisatoren auf ihren Eroberungsreisen verteilten, sollten wertvollere Gegengaben provozieren, die dann wiederum mit einer so paradoxen wie perfiden christlichen Rhetorik entwertet und zur unterwerfenden Beglückung der Primitiven funktionalisiert wurden.

Narrationen von Gaben umfassen mindestens drei grundlegende Aspekte: Geben, Empfangen, Weiter- oder Widergeben. Dabei wird die Seite des Empfangens und des Dankens häufig kaum in den Blick genommen; hier leistet Eckers weiter Blick auf die komplexen Interaktionen Abhilfe. Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Gabenprozeduren und ihren narrativen Inszenierungen versteht Ecker zugleich als einen Beitrag zur Erforschung der "materiellen Kultur der Dinge". So widmet sie ihr zweites Kapitel der Gabe des Brots in Texten von Heinrich Böll, Primo Levi, Rainer Werner Fasssbinder und George Tabori. Sie demonstriert, dass dieses Objekt besonders in Zeiten der Armut von ganz besonderer wirtschaftlich-vitaler, aber auch symbolischer Bedeutung ist.

Besonders in der Literatur des 19. Jahrhunderts wird die von Bourdieu decouvrierte Logik des gesellschaftsstiftenden Gabentausches, dessen Tauschgesetze unter einer Maske der Generosität verborgen werden müssen, vielfältig inszeniert. An den Romanen und Figuren Jane Austens erläutert Ecker eine habituelle Dankbarkeit als ein spezifisch weibliches Verhaltensmuster. Sie unterscheidet die Dankbarkeit der Etikette, die sich in Sprachformeln artikuliert und deutlich inszeniert wird, von einer diffusen, tief empfundenen doch eher stummen, asymmetrisch verteilten Dankbarkeit, die zum Habitus besonders von ökonomisch benachteiligten oder älteren, unverheirateten Frauen gehört. Henry Fieldings Roman "Tom Jones" erklärt Ecker als letzte Ausprägung eines spezifisch männlichen Dankbarkeitsmodells (als Ausdruck einer 'noble manly nature'), das dann abgelöst wurde von weiblicher Dankbarkeit als erwünschter oder erzwungener Charaktereigenschaft, die meist im Verbund mit Keuschheit, Bescheidenheit und Unterordnung auftritt.

Die zweite detaillierte Gaben-Analyse zum 19. Jahrhundert gilt einem einzelnen Text aus Honoré de Balzacs gigantischem Sozial- und Wirtschaftstableau der "Comédie humaine": dem Roman "Emilie Grandet". Neben dem topischen Geiz des Vaters Grandet entdeckt Ecker hier eine Vielzahl von Gaben, die sich um die Figur der Tochter drehen, und die von der Forschung bisher viel weniger bemerkt wurden als das plakative Motiv des väterlichen Millionärsgeizes. Die Millionenspende Emilies an ihren sie verschmähenden Ex-Verlobten deutet Ecker als eine - durchaus aktive und nicht unaggressive - Potlatsch-Verschwendungsgabe im Sinne Batailles. Denn diese Gabe wird ostentativ begleitet von einem Brief und bedeutet mithin einen Einsatz in der Affektökonomie der Beteiligten. Hier könne Eugenie an Rang gewinnen, was sie an Geld verschenkt.

Saul Bellows Roman "The Bellarosa Connection" thematisiert die in den Gabentheorien meist wenig beachtete Seite der Aufnahme der Gabe durch den Beschenkten und seiner Reaktion des Dankens. Der Fall, den Bellow so raffiniert wie rätselhaft gestaltet, betrifft die größtmögliche Gabe: die Rettung eines Menschenlebens. Der Protagonist Fonstein wurde durch Billy Rose und seine mafianahe Organisation Bellarosa vor dem Tod durch die Faschisten bewahrt, aus deren Gefängnis ihn Rose rettete. Zeitlebens versucht Fonstein nun (vergeblich), von Rose das Recht zu erlangen, ihm persönlich in einem Gespräch für diese Gabe des Lebens zu danken. Durch den abgewiesenen Dank wird der Protagonist (aber auch die Erzählung) dauerhaft in den prekären Status einer fehlenden Erklärung für das Geschehen versetzt. Bellows Roman inszeniert zwei gegensätzliche (säkulare respektive religiöse) jüdische Modelle des Dankes, wobei der Erzähler sich wiederholt irrt beim richtigen Verständnis der Gabe und des Dankeswunschs. So bleibt die Frage, welches der Gabe- und Dankmodelle das archaischere, vorkapitalistische ist, unbeantwortet in der Schwebe.

Die Frage nach dem angemessenen Maß einer barmherzigen, göttlichen Gabe und seiner Annahme werfen Gedichte von Marianne Moore und Ilse Aichinger auf. Verschiedene Texte und Theorien analysieren und variieren die barmherzige Gabe des Samariters, der seinen Mantel halbiert und mit einem Armen teilt. Die leitende Frage dieser Neubearbeitungen der biblischen Samaritergeschichte lautet: Warum nur der halbe Mantel? Ecker sucht auch hier nach Gegenströmungen (nach verweigerten Annahmen, nach eingeforderten statt erbettelten Almosen) zur idealisierten und moralisch gebotenen Barmherzigkeit im Rahmen der Gaben-Heils-Ökonomie.

Ihr Schlusskapitel gilt den Souvenirs als häufig verschenkte Erinnerungs-Dinge. Die hier analysierten literarischen Texte, von Gottfried Kellers "Grünem Heinrich" über Henry James' "Golden Bowl" bis zu Alessandro Barricos "Land aus Glas", verhelfen Schwundformen des idealen Andenkens oder Mitbringsels zu fesselnder Präsenz. Je weniger die Mitbringsel von den Reisen ihrer Überbringer erzählen, um so mehr haben die literarischen Texte von den scheiternden Dingen und den vertrackten Beziehungen der gebenden und empfangenden Personen zu erzählen. So wie jedes Souvenir als ein Erinnerungs-Ding narrativ ist, so besitzt Literatur die Kraft, Konventionen von Mitbringseln zu inszenieren und zu befragen.

Gisela Eckers feines Gespür für soziale Beziehungen des Gebens und Nehmens und für literarische Inszenierungen komplexer, ambivalenter und riskanter Gaben-Tausch-Verhältnisse macht diese Studie zu einer anregenden, intellektuell sehr lohnenswerten Arbeit im Feld kulturwissenschaftlicher Rekonstruktionen der Ökonomie. Das Buch ist ein wirksames Gegengift gegen weithin idealisierte Alternativen zur Tausch- und Geldökonomie. Es leuchtet die Abgründe der Gabenökonomie aus. Und es offenbart das erhebliche ästhetische, kulturelle und epistemische Potential, das der Literatur als narrativer oder auch lyrischer Beobachtung und Reflexion ökonomischer Verhältnisse inhäriert.


Titelbild

Gisela Ecker: "Giftige" Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
227 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783770545667

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