Die Welt der 1000 Dinge

Uwe Tellkamp erzählt von den Türme(r)n und Toren Dresdens

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarische Zeitbilder tendieren wohl unweigerlich zur Dickleibigkeit. Und zwar unabhängig davon, ob ein Figurenensemble vorgestellt wird, das möglichst viele Facetten einer Umbruchszeit abdecken kann wie in Thomas Brussigs Roman "Wie es leuchtet" (2004, 607 Seiten) oder ob aus einem einzelnen Lebenslauf exemplarisch zeitspezifische Verhältnisse erschlossen werden sollen, wie es uns Ingo Schulzes "Neue Leben" (2005, 790 Seiten) vorführt. Uwe Tellkamp hat nun mit 937 Seiten ein noch umfangreicheres Werk vorgelegt, das am Beispiel Dresdens ein Zeitbild der letzten sieben Jahre der DDR entwirft. Die Ansicht des jugendlichen Protagonisten Christian Hoffmann in "Der Turm", dass "die wirklichen Romane" erst ab 500 Seiten begännen, scheint auch dem Autor Tellkamp nicht fernzuliegen. Christians Leseverhalten dagegen gibt offenbar nicht das Vorbild für den idealen Leser des Romans ab: Er orientiert sich am "Buchstabensaufaus" Eugene Gant (aus Thomas Wolfes "Schau heimwärts, Engel") und verschlingt 500 Seiten pro Tag oder einmal gar, angespornt durch den Wettbewerb mit seinem Bruder Robert, 716 Seiten - an deren Inhalt er sich, wen wundert es, anschließend nicht mehr erinnert.

In "Der Turm" wird Dresden, angereichert mit einer Fülle von Figuren, zum Mikrokosmos der DDR, in dem sich die riesige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im real existierenden Sozialismus ablesen lässt. Die "Geschichte aus einem versunkenen Land", so der Untertitel, versammelt alles, was zum materiellen wie ideellen Bankrott der DDR beigetragen hat: vom Wohnraummangel über die schwierige Versorgungslage bei den Konsumgütern bis hin zu gefälschten Landkarten, von einzelnen Markenartikeln wie Orwo-Film über katastrophale Zustände in der medizinischen Versorgung und im Rechtssystem bis zum Verhältnis der DDR-Bürger zu ihren russischen "Freunden". Von der 'Gretchenfrage' Gehen oder Bleiben, der Bestechung und Bespitzelung über subversive Witze, ideologische "Rotbeleuchtung" im Unterricht, Zensur, Generationenkonflikte bezüglich der Einschätzung des Stalinismus oder der Vorgänge im Moskauer Hotel Lux bis zu Ausschlüssen von Schriftstellern aus dem Schriftstellerverband und der sozialistischen Kritik an der Literatur der Romantik.

Diese Fülle an bekannten Aspekten signalisiert, dass hier fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer umfassend vom Leben in der Erziehungsdiktatur erzählt werden soll. Es geht nicht um die Perspektivierung bestimmter Schicksale oder Ereignisse, sondern um die sorgfältige Rekonstruktion einer Lebenswelt. Allein über die Familie Hoffmann mit den beiden Jungen Christian und Robert, ihren Eltern Richard (Chirurg) und Anne (Krankenschwester) sowie Annes Brüdern, dem Lektor Meno und dem Betriebsdirektor und Ökonom Ulrich, gibt der Roman Einblicke in Schule, Verlag, Gesundheitswesen, Militär und Wirtschaft. Dazu kommen Figuren, die für differierende lebensweltliche Erfahrungen und ideologische Standpunkte stehen wie der Schriftsteller Albin Eschschloraque, der die stalinistischen Verbrechen als notwendige Maßnahmen rechtfertigt oder der lange Zeit undurchsichtig wirkende Rechtsanwalt Sperber.

Da viele der im Roman thematisierten Probleme allerdings dieselben Ursachen haben - behördliche Willkür, Missmanagement oder 'Betonkopf'-Politik - treten beim Lesen Ermüdungseffekte ein, die der atmosphärischen Dichte des Romans abträglich sind. Der Verdacht liegt nahe, dass auf dem Schreibtisch des Autors ein allzu sorgfältig angelegter Zettelkasten "DDR" stand, der unter Kategorien wie "Konsum", "Militär", "Bildungswesen", "Literatur/Verlage", "Gesundheitssystem", "Politik/Rechtswesen/Staatssicherheit" eine große Menge an gesammeltem Material bereithielt, das es restlos zu verwenden galt. Umgekehrt wirkt es auf den ersten Blick seltsam, was der Erzähler alles nicht für erzählenswert hält: Dramatischen Einzelereignissen wie etwa dem Versuch des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), Richard wegen der Affäre mit der Mutter seines unehelichen Kindes zu erpressen, wird relativ wenig Raum gegeben. Auch von Christians Gefühlen und Reaktionen, seiner Angst, als er während seines Militärdienstes einmal beinahe von einem Panzer überrollt wird, aber auch seiner Reaktion auf die Mitteilung, dass er eine Halbschwester und sein Vater eine neue Affäre - und zwar mit Christians Freundin Reina - hat, erfahren wir wenig.

Dass Christian, den wir zu Beginn des Romans als Schüler eines Internats kennenlernen, Eugene Gant mit dem Autor Thomas Wolfe gleichsetzt, kann man als einen Fingerzeig auf die autobiografische Grundierung vieler lebensweltlicher Erfahrungen (inbesondere in den Bereichen Militär und Medizin) in "Der Turm" verstehen. In dieser Passage findet sich zugleich weiteres Potential für eine innerfiktionale Kommentierung von Tellkamps Roman. Die "großen epischen Romane Tolstois, Dostojewskis, Thomas Manns, Musils und Doderers" verweisen auf eine bestimmte Erzählökonomie. Diese ist soweit plotorientiert, wie es nötig ist, um den Figuren biografische Tiefe zu geben und ein Spektrum unterschiedlicher Lebensläufe und Schicksale vorzustellen. Im Kern jedoch geht es um eine besonders hohe atmosphärische Dichte - und um diese zu erreichen, konzentriert sich das Erzählen auf die Dinge. So wie Christian aus Wolfes Roman erfährt, wie "die Pfiffe der amerikanischen Kontinentalzüge" klangen, zielt der Erzähldiskurs in "Der Turm" darauf, die Leser an den letzten Jahren der DDR teilhaben zu lassen. Der Versuch, eine 'authentische' Atmosphäre zu erschaffen, arbeitet mit einer bewussten Überfrachtung des Erzählens.

Wie der Schaffner der Standseilbahn, von dem sich Christian vorstellt, dass er nach so vielen Jahren "schon mit dem Gehör" sehen können müsse, führt der Erzähler die Leser immer wieder kreuz und quer durch Schauplätze und Milieus Dresdens, auf dass sie mit der Lebenswelt der Figuren wirklich vertraut werden. Der Roman partizipiert damit an einem Realismusverständnis, in dem die Welt über die Dinge sinnlich erfahrbar und zugleich lesbar sein soll. Die wenigen Motive, an denen sich allegorische Deutungen aufdrängen - etwa die zweimalige Erwähnung eines Maskenballs, der in der Literatur häufig die Verblendung einer untergehenden Gesellschaft charakterisiert - stellen vor Augen, dass die Konzentration auf die sichtbaren 'Dinge', die in ihrer überbordenden Fülle Realitätseffekte erzeugt, ein Umschlagen des Erzählens ins 'nur' Allegorische oder Symbolische verhindert.

Die Rede von der Welt der "1000 kleinen Dinge" ist eine der Spuren, die der Roman zu seiner impliziten Poetologie legt. Dass Christian 'Onkel' Niklas Tietze nur als Besucher dieser "Welt, wo es die '1000 kleinen Dinge' und den Fluch des Treppensteigens in Behören gab", beschreibt, ist in zweierlei Hinsicht symptomatisch: zum einen in Bezug auf die Haltung der 'Türmer' zur Welt und zum anderen in Bezug auf die Tatsache, dass die wichtigsten Protagonisten, Christian und Meno, selbst als Beobachter dieser Welt eingeführt werden. Dass der Erzähler Aufzeichnungen Menos integriert ("schrieb Meno Rohde") und ihn damit in die Position einer zweiten Erzählerstimme einsetzt, nähert Figuren und Erzähler einander an, die in sehr ähnlicher Weise als distanzierte Beobachter einer Welt, die sie möglichst präzise beschreiben wollen, in Erscheinung treten. Menos Aufzeichnungen, die die Overtüre des Romans bilden, enthalten viele Einzelbeobachtungen und Beschreibungen, die im weiteren Verlauf in Gedanken und Reden von Figuren wieder begegnen. Sein unbedingter Wille zur genauen Beobachtung und atmosphärischen Beschreibung bildet auf diese Weise die Keimzelle des Erzählens, die nicht nur Christian zum Vorbild wählt, sondern auch der Erzähler.

Der Familienverband Hoffmann & Co, der in Häusern mit Namen wie "Tausendaugenhaus", "Karavelle" oder "Abendstern" lebt, bildungsbürgerliche Tugenden wie Hausmusik kultiviert und Wissen grundsätzlich nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als einen Schatz betrachtet, den es zu erwerben und bewahren gilt, scheint zunächst ein relativ ruhiges Leben zu führen. Vor allem die Familie Hoffmann als wichtigster Teil der in Anspielung auf die 'Turmgesellschaft' in Goethes "Wilhelm Meister Lehrjahre" 'Türmer' genannten Gemeinschaft beobachtet zunächst nur die Schicksalsschläge, die Menschen in ihrem sozialen Nahraum treffen: Regine, deren Mann während einer Reise im Westen blieb und die seit Jahren als Ausreisewillige schikaniert wird, oder die junge Muriel, die zur Strafe mehrere Jahre in einem Jugendwerkhof verbringen muss. Christian dagegen gerät zwar häufiger in Schwierigkeiten und er hat sogar zwei Unfälle mit Panzern, doch kann seine Familie ihn eine Zeitlang beschützen, und bei den Unfällen werden Andere verletzt oder sterben sogar. Doch schließlich trifft es auch ihn, er kommt ins Gefängnis, man entzieht ihm die Zulassung zum Medizinstudium, er muss in die Militärstrafanstalt Schwedt und schließlich zur Strafarbeit in ein Chemiewerk. Im Arrest in Schwedt erkennt er sich als "Gegner der Armee und des Systems, und deshalb wurde er bestraft. [...] Hier, an diesem Ort, dem von Braunkohletagebauen und vergifteten Flüssen zerfressenen Chemie-Reich, war er richtig, hier war sein Platz". Diese eigentlich perverse Identifizierung des Opfers mit der Weltsicht seiner Peiniger bildet einen Umschlagpunkt, der sich bei anderen Figuren weniger offensichtlich vollzieht. Er kündigt einen Einstellungswandel an, der auch Teile der Türmer schließlich dazu bringt, sich im Sommer 1989 in der Bürgerbewegung zu engagieren.

Die Sphäre, in der die Akademikerfamilien leben, perspektiviert den Niedergang der DDR auf besondere Weise. Vor allem Lektor und Autor Meno hat Zugang zu Gesellschaftsschichten, die innerhalb der DDR ein nachgerade aristokratisches Flair ausstrahlen. Und Christian macht sich mit einem Lernfuror, der vom Schulstoff vollständig abgekoppelt ist und seiner Liebe zur klassischen Musik zum Außenseiter in der Schule. Interessanterweise gewinnen die Figuren genau darin - und nicht etwa auf Grund ihrer Lebensläufe oder individuellen Lebensentscheidungen - etwas Exemplarisches: Mehr noch als alle Anderen leben sie demonstrativ in einem 'untergegangenen Land'. Denn sie halten "den Kompaß", wie Meno schreibt, "unbeirrbar auf Weimar gerichtet", und die "Musennester" sind Fluchträume vor der Wirklichkeit: "Im Grunde, dachte Meno, interessiert sich Niklas nur für Musik und für historische Aufnahmen dieser Musik. Je toter, desto besser! Und so sind sie hier oben alle, am liebsten würden sie im alten Dresden leben [...]."

Der Erzähldiskurs denunziert weder die Bewunderung für das alte Dresden noch die bildungsbürgerliche Sphäre. Schließlich häuft der Erzähler selbst Wissen und Erfahrungen als einen Schatz an, den es zu studieren und zu tradieren gilt. Es wird jedoch deutlich, dass die Zugewandtheit der Turmbewohner zur Vergangenheit teilweise Züge einer Flucht annimmt und dass diese Haltung mit dazu beiträgt, die bedrückenden Verhältnisse in der Gegenwart, unter der auch sie leiden, aufrecht zu erhalten.

Die Schattenwelt, als die Dresden im Verlauf des Romans immer häufiger charakterisiert wird, bezeichnet zunächst in "Der Turm" die untergangene Epoche des Elbflorenz, der die Bewohner nachtrauern. Der sichtbare äußerliche Verfall der Stadt verweist schließlich aber nicht mehr nur ex negativo auf ehemaligen Glanz, sondern wird zunehmend im Hinblick auf die Gegenwart politisch konnotiert. Dies versinnbildlicht am deutlichsten eine Szene, in der der Untergang als ästhetischer Genuss begegnet: Meno hört in der Kirche Rudolf Mauersbergers "Wie liegt die Stadt so wüst", die die Zerstörung Dresdens durch die allierten Luftangriffe verarbeitet. Vom Klagegesang des Chores fühlen sich die Versammelten offensichtlich direkt angesprochen. Die (im Text nicht zitierten) Fragen des Chores, die mit der Erwähnung dieser Motette evoziert werden ("Warum? Warum? Warum [...]") lösen sich ab von den Schrecken der Vergangenheit und richten sich direkt auf die eigene Lebenssituation, als Rosenträger zu predigen beginnt: "Erinnerungen an den Angriff, Krieg, Verheerung und Vergangenheit hatten sie erwartet, gehofft aber auf Worte zur Gegenwart."

In der Kirchenszene wird eine nostalgische Haltung verabschiedet, die in der Orientierung auf das alte Dresden die Bedeutung der Gegenwart marginalisierte. Dass dies im Zusammenhang mit einem Musikstück geschieht, das die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aufruft, vermittelt zusätzlich, dass alte Argumentationsmuster nicht mehr funktionieren: Mit dem Hinweis auf die antifaschistische Tradition wurde vielfach Kritik an der DDR als faschistisch denunziert. Die Verbindung zwischen dem Kriegsthema des Chorstücks und dem Blick auf die Zukunft weist indirekt darauf hin, dass die Bürger nun endgültig eine solche durch die Instrumentierung des Antifaschismus erpresste Loyalität aufkündigten. Sie ist Teil der Krankheit, die das Land befallen hat und gegen die die Bürger schließlich auf die Straße gehen. Sie flüstern nicht mehr, sondern äußern ihre Kritik vor Anderen, und die Kerzen der Demonstranten im Herbst 1989 lassen auch die Schattenwelt Dresdens wieder ein wenig leuchten.

Das Motiv des Untergangs, das der Roman im Untertitel "Geschichte aus einem untergegangenen Land" prominent einführt, bezieht sich auf den Untergang einer Epoche innerhalb der DDR. Er steht zugleich für eine Zustandsbeschreibung der DDR als ein in den letzten Jahren in Starre verfallenes Land. Der Roman wiederum, der fast 20 Jahre nach dem Ende der DDR von diesem Verfall erzählt, macht sich zu einem Archiv, das "1000 Dinge" als Erinnerung an ein "untergegangenes Land" bereitstellt. Dieser Anspruch führt zu einer tendenziellen Überfrachtung des Zeitbildes, die sich dem Leser um so deutlicher mitteilt, als "Der Turm" vor allem vom Stillstand und von eher untergründigem Wandel erzählt. Diese Anforderung des Gegenstandes, der den panoramatischen Überblick in "Der Turm" von den eingangs erwähnten Zeitbildern von Brussig und Schulze, die Figuren innerhalb sich wandelnder Gesellschaften in den Blick nehmen, deutlich unterscheidet, ist nicht durchgängig gelungen gelöst. Einige Kürzungen hätten hier die atmosphärische Dichte befördert. Insgesamt jedoch ist der Roman mit seiner konzentrierten Beobachtung und Beschreibung der "1000 Dinge" die Lebenszeit der Leser wert, die sein Umfang so ostentativ einfordert.


Titelbild

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
976 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420201

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