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Franz Hohler erzählt "Das Ende eines ganz normalen Tages"

Von Erhard JöstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Erhard Jöst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Jemand, nämlich ich, ging zielbewusst über einen Platz in Basel", so beginnt die erste von insgesamt vierzig Geschichten. Sie schildert einen Fall und führt dem Leser unmittelbar vor Augen, was ihm der Autor Franz Hohler präsentieren wird: Eine bunte Mischung von Dichtung und Wahrheit aus selbst erlebten Ereignissen und erfundenen Vorgängen. Der Text auf der Umschlagseite des Buchs weist darauf hin: "Viele Geschichten haben zwei Helden: den Alltag und Franz Hohler selber, und viel braucht es nicht, damit ein Leben seine Balance verliert...". Die Geschichten von ganz unterschiedlicher Länge halten zumeist alltägliche Ereignisse fest, geben diesen aber einen weit über den Alltag hinausgehenden (Hinter-)Sinn. Es scheint, als ob der Autor Situationen evoziert und sogleich in seine Erzählungen hineinsteigt, um aktiv in das Geschehen einzugreifen. Manchmal kommentiert er auch die Geschichten oder reflektiert über ihren Ablauf und ihr Ergebnis. Dies geschieht unaufdringlich und humorvoll, mit Charme und Selbstironie ohne erhobenen Zeigefinger.

Neben dem Autor selbst treten auch oft Personen auf, die ihm nahe stehen. In einer Geschichte stellt er das Bild der Großmutter seiner Frau als junges Mädchen vor und beschreibt anrührend die Beziehung, die er zu der Frau aufgebaut hat. In der Erzählung "Mit Katharina in Indien" blickt er zurück auf eine Person und eine Geschichte, die sich verselbständigt und ihn zu seinem Erstaunen "überall hingebracht" hat. Katharina Disch aus seiner im Jahr 1998 veröffentlichten Novelle "Die Steinflut" führt ihn auch nach Indien, wo ihn der Gleichmut der Menschen beeindruckt. "Im gelobten Land" erschreckt ihn die Mauer, die für geschätzte 3,4 Milliarden Dollar gebaut wurde: "Einen Augenblick habe ich die irrwitzige Vorstellung, Israel würde dieses Geld für die Infrastruktur Palästinas zur Verfügung stellen. Ich vermute, dass es sich die Mauer ersparen könnte."

Nach dieser illusorischen Annahme kolportiert Hohler das antiisraelische Klischee: "Wie Vieles von dem, was die Israelis heute tun, erinnert an das, was ihnen selbst in ihrer leidvollen Geschichte widerfahren ist, von der Einschränkung bis zur Sippenhaft. Das Wort ,Ghetto', einst auf die Juden bezogen, benutzen die Palästinenser heute, wenn sie von ihrer Situation reden."

In der Regel überlässt der Autor dem Leser die Bewertung der Vorgänge, die sich von allein durch die Gedankenführung und Art der Beschreibung in dessen Kopf bildet. Hohler ist also ein eloquenter und geschickter Didaktiker, ein Lehrer, der Erkenntnisse vermittelt, ohne zu belehren. Das liegt auch daran, dass er als routinierter Schriftsteller unterschiedliche Register ziehen kann: Manchmal fungiert er als sachlicher Beobachter, zuweilen mokiert er sich auch über die geschilderten Erlebnisse. Aber er arbeitet mit sanftem Spott und lässt verletzenden Zynismus außen vor. Schmunzelnd lässt er den Leser an dem sich täglich wiederholenden Irrsinn teilhaben: Etwa an einem Gespräch, das nach dem "elend-fröhlichen Digitalpiepsen eines Handys" abläuft. Die unfreiwilligen Zuhörer in einem Zugabteil werden Zeugen einer "Verkündigung" oder erleben einen Dialog über Belanglosigkeiten. Die Gesprächspartner sprechen so lange über ihre Handys miteinander, bis sie sich endlich gegenüberstehen: "Jetzt fahri grad i Hauptbahnhof y. I chume, tschüss."

Hohler stellt groteske Situationen neben anrührende Erlebnisse. Einmal wird die Verzauberung vorgeführt, die ein Sänger und eine Pianistin bei ihrem Liederabend bei ihren Zuhörern hinterlassen, bevor diese wieder "in ihre alte Trockenheit" zurück sinken. Mit solchen Geschichten erinnert Hohler an Franz Kafkas Erzählkunst. Meisterhaft ist auch, wie es ihm zuweilen gelingt, Vorgänge paradigmatisch in einem Augenblick zu verdichten: Der Jemand in der Eingangsgeschichte "Ein Fall" ist ein "freudig Erwarteter", der "beschwingt" läuft und durch einen Fehltritt zu einem Fall kommt, der ihn "als plötzlichen Greis" zurücklässt. Illusionen platzen, wenn Kinder erkennen, dass sie ihren Beschluss, "einen Weiher auszuschöpfen", nicht realisieren können. Schmerzhaft wird dem Mann sein hohes Alter bewusst, wenn er auf dem Fahrkartenautomaten sein Ziel nicht mehr findet. Die Geschichte "Der Vater meines Vaters" lässt Mitgefühl und Mitleid mit dem Großvater erkennen, der ausgebeutet wurde, aber "eine wichtige und große Fähigkeit [hatte], nämlich die, sich zu freuen." Die Gleichzeitigkeit von Bescheidenheit und Wahnsinn wird in der Geschichte "12.30 Uhr" vorgeführt: Der Ich-Erzähler isst seine aufgewärmte Broccoli-Suppe und hört die Tages-Nachrichten im Rundfunk.

Hohler schaut zurück und nach vorne. Er sammelt Augenblicke und schildert Begegnungen, aus denen hervorgeht, dass die Generationen einen vertrauten Umgang miteinander pflegen. Idyllisch, kitschig oder typisch für die traditionelle Schweiz?

Immer wieder werden Personen gezeigt, deren Lebenszeit abläuft und deren Wünsche "nicht mehr zu stillen" sind. An Alfred Polgars einfühlsamen Umgang mit seinen Protagonisten erinnert "Die Nachricht vom Kellner". Der "Genozid" liefert nachhaltig wirkende Einsichten und auch die Geschichte, die als Buchtitel ausgewählt wurde, gehört zu den besten: "Das Ende eines ganz normalen Tages". Alle Geschichten sind Belege für die Konfession: "Es ist wohl alles möglich - nichts ist so unwahrscheinlich, dass es nicht passieren kann."

Natürlich blitzt auch öfters die Schalkhaftigkeit des Autors auf, der ja schließlich auch als Kabarettist auftritt. Sein spöttischer Humor kommt vor allem in der Geschichte von den "Gutscheinen" zum Ausdruck, die den grotesken Sammelwahn aufspießt: "Ich hatte zwei hässliche, wenn auch ökologisch unbedenkliche Unterhosen gekauft, die ich eigentlich nicht wollte. [...] Ich brauchte eine Weile, um mich von den Strapazen des errungenen Rabatts zu erholen, und erst zu Hause merkte ich beim Studium meines Quittungsstreifens, dass ich doch noch profitiert hatte: Meine 89 Supercard-Punkte vom durch die FM annullierten Kauf, diese 89 Supercard-Punkte also wurden nicht gelöscht, sondern blieben einfach auf meinem Konto stehen, das sich nun schon der Grenze nähert, wo ich mir einen Kristallelefant kommen lassen kann oder einen Lifehammer, der jede Wagenscheibe durchschlägt und dessen Klinge sogar die Sicherheitsgurte durchschneidet."

Auf dem "Heimweg" ereignet sich nichts Außergewöhnliches, und die sich ständig wiederholenden Vorgänge enden in Zufriedenheit: "Wir öffnen das große alte Gartentor und sind zu Hause." Symbolträchtig ist auch die Handlung des Kindes, das bei der Flucht aus zerstörtem Kriegsgebiet "nur das Nötigste" mitnehmen darf und sich für die Feder einer Taube entscheidet, die "vom Rotorblatt eines Kampfheliokopters zerfetzt" wurde. Über allen Ereignissen steht bei Hohler die Erkenntnis: "Das, was du gut findest, musst du tun!"

Ein Buch, mit dessen Geschichten man sich an kalten Winterabenden wärmen kann.


Titelbild

Franz Hohler: Das Ende eines ganz normalen Tages. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2008.
110 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872834

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