"Diese verdammte, bleierne Stunde Null"

Dieter Fortes Roman "In der Erinnerung

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, wir kennen sie nicht als "bleiern", diese "Stunde Null" , und auch nicht als "verdammt", sondern eher als einen schnellen Aufbruch, einen Startschuß gewissermaßen in eine bessere und moderne Gesellschaft, welche das Vergangene möglichst rasch und vollständig vergessen wollte. "In der Erinnerung" eines Zehnjährigen jedoch bekommt die sogenannte Nachkriegszeit den ihr angemessenen Platz. Die Kinderperspektive weiß nichts von Übergängen; sie dehnt das Ende des Krieges bis zur Währungsreform zu einem endlosen Raum. Die Zeit scheint stillzustehen über der Trümmerwüste, die einmal eine rheinische Großstadt gewesen ist. In ihren Wohnhöhlen schauen die Menschen dumpf dem verhangenen Tageslicht entgegen, das nur den neuerlichen Kampf ums nackte Überleben ankündigt, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Verstörte Männer in abgerissenen Uniformen tauchen unvermutet wieder auf, Kinder verschwinden auf immer unter einstürzenden Ruinen.

In dieser archaischen Welt wird alles zum Elementarereignis: Essen und Spiel, Arbeit und Tod stehen gleichberechtigt nebeneinander. Das Kind und die überlebenden Familienmitglieder führen eine Existenz von Stunde zu Stunde, eine Zukunft ist nicht in Sicht. Weil die Erwachsenen ihre eigenen Probleme haben und Kinder höchstens auf dem Schwarzmarkt und in Schieberbanden benötigen, urteilt der Erzähler: "Für die Kinder war es wunderschön". Es sind allerdings nicht die schrecklichen Ereignisse, die hier im Vordergrund stehen, sondern die Momentaufnahmen einer Epoche, in der "die Erdkugel wie ein erloschener Stern durch das Weltall jagte" und "die Wahrheit etwas war, was es nicht gab." In dem apokalyptischen Tableau tauchen längst vergessene Namen wie "Stalingrad" oder "Hamsterfahrt" als Wegmarken auf und erhalten Beschwörungscharakter.

In Fortes eigentümlicher Sicht schwingt vieles mit: Natürlich in erster Linie Selbsterlebtes des 1935 geborenen Autors, aber auch jene kindlich gruslige Distanz, mit der Günter Grass´ die annähernd gleiche Zeit in der "Blechtrommel" beschreibt. Manches erinnert auch an den Atombomben-Film "The Day After" oder an jenes zukünftige New York, das John Carpenter in seinem Film "Die Klapperschlange" entworfen hat. Aber auch Bilder aus vergangenen Kriegen, vor allem dem dreißigjährigen, drängen sich auf, so daß der durch das Kellerloch beschränkte Blickwinkel des Zehnjährigen die Weltgeschichte zusammenlaufen läßt, sie gleichsam bündelt auf nur ganz wenige, aber entscheidende Aspekte. So entsteht ein Lehrstück menschlicher Existenz. "Die Regierungszeiten und die Jahreszahlen" bleiben in der Erinnerung des Kellerkindes unwesentlich. Hier herrscht vielmehr "ein immerwährender und ewiger Kalender aus Tag und Nacht, Geburt und Tod, Untergang und Neuanfang."

Der Erzähler vermeidet den nostalgisch verfälschten Rückblick. Er beschwert uns vielmehr mit dem Gewicht der Vergangenheit. Das Schlußkapitel spielt in der Gegenwart. Was als Kontrast angelegt scheint, ist in Wahrheit eine Fortsetzung: "Um das Quartier toste der Verkehr, auch die Straße war mit Autos vollgestellt, vor dem Fenster parkte ein Wagen mit dem Kennzeichen von Vukovar." Derart wird das Autokennzeichen der erst jüngst kriegszerstörten Stadt zum Menetekel. Und wenn am Ende der Roman seinen Titel zum lyrischen Refrain erhebt: "In der Erinnerung war alles ein schwerer, ferner Traum, ohne Zusammenhang in den unausschöpfbaren Dimensionen nebeneinander existierender Augenblicke ... und doch stand alles unwandelbar fest", so vereinen sich Inhalt und Machart zum sprachlichen Denkmal gegen das Vergessen.

Titelbild

Dieter Forte: In der Erinnerung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
252 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3100221141

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