Bezeichnende Innerlichkeit

Peter Walther hat eine opulente Anthologie mit Tagebuch- und Briefnotizen deutscher Intellektueller herausgegeben, die den Ersten Weltkrieg kommentierten

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was werde ich wohl sagen, wenn ich diese Zeilen in zwanzig Jahren lese?", fragt sich Gershom Scholem am 26. Februar 1913 in seinem Tagebuch. Er beschreibt einen Spaziergang in Berlin, bei dem der Kaiser an ihm vorbeifährt. "Ich habe aber den Hut nicht gezogen. Ich habe gar keine Veranlassung."

Es ist die erste Notiz in dem von dem Germanisten Peter Walther herausgegebenen, opulenten Band "Endzeit Europa". Als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 9. November 2008 bis zum 8. Februar 2009 im Kurt Tucholsky-Literaturmuseum Schloß Rheinsberg zu sehen sein wird, hat Walther ein "kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg" collagiert.

Scholems Eintragung lesen wir nun nicht zwanzig, sondern bereits über 90 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, der im August 1914 begann und sich in den Texten, die der Band in einem "Prolog" aus dem Jahr 1913 versammelt, als spürbare nervöse Spannung im Gemüt der Schreibenden bereits ankündigt. Alle wissen, was kaum noch abzuwenden ist, und wollen es teilweise dennoch immer noch nicht ganz wahrhaben. So schreibt Thomas Mann Ende Juli 1914 an seinen Bruder Heinrich, der gerade seinen Roman "Der Untertan" beendet hat: "Ich war bis heute optimistisch und ungläubig - man ist zu civilen Gemütes um das Ungeheuerliche für möglich zu halten."

Doch das "Ungeheuerliche" traf ein. Seither haben viele Anthologien versucht, einen Querschnitt der Stimmungen und Ansichten zu vermitteln, die in jenen Jahren verschiedenste Gesellschaftsschichten prägten. So erschienen etwa bereits in den 1920er-Jahren in einer patriotischen Ausgabe "Kriegsbriefe gefallener Studenten", die laut Vorwort tiefer als alle "Kriegsromane und -historien untrügliche persönliche und historische Wahrheit" über das Geschehene vermitteln sollten. Viel später, 1982, gaben Thomas Anz und Joseph Vogl die kritische Anthologie "Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918" heraus und schilderten in ihrem Nachwort eingehend die Verblendung vieler Intellektueller und Schriftsteller, die sich 1914 vom Begeisterungstaumel der Kriegsbefürworter willig mitreißen ließen.

Ähnliches unternimmt auch Peter Walther in seinem Nachwort. Mehr als einhundert Autoren lässt er in seinem Band zu Wort kommen, der noch dazu farbige zeitgenössische Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg enthält - eine echte Seltenheit, denn die Bilder des Stuttgarter Fotografen Hans Hildenbrand sind die einzigen, die auf deutscher Seite in jenen Jahren gemacht wurden und die hier noch durch solche des Franzosen Jules Gervais-Courtellement ergänzt werden. Die Brief- und Tagebuchauszüge, die er zusammengetragen habe, verdichteten sich zu mehr als nur einem diffusen Panorama, schreibt der Herausgeber. Bildeten sie doch "die inneren Voraussetzungen für das Zeitgeschehen ab" und seien "Zeugnisse einer Epoche, die zugleich Endzeit und Übergang war".

So kann man es in der Tat beschreiben, wenn etwa einer der großen kriegsbejahenden Dichter jener Jahre, Gerhart Hauptmann, am 23. Februar 1916 den Popanz einer "deutschen Innerlichkeit" gegen das Zerrbild einer "amerikanisierten, harten Kaufmanns und Industriewelt, die unsre Industrien, Kaufleute, unsren Reichtum und unsre Flotten hasst", aufbaut. "Die deutsche Innerlichkeit ist immer dagewesen", notiert der Schriftsteller geradezu trotzig. "Nur dass die Fülle des Verkehrs, der industriellen Arbeit, des Fortschreitens etc., sie vielleicht verbirgt. Dafür ist ja die Innerlichkeit, dass sie innen ist, und nicht Geschrei und Aushängeschild der Strasse."

Ganz wohl war Hauptmann jedoch im Jahr 1914 auch nicht, als sich der Krieg unübersehbar ankündigte. So notiert er am 18. Juli einen Traum, der vielleicht nicht nur sexuelle Wünsche verschlüsselte, wie man angesichts der aufdringlichen Symbolik mit Sigmund Freud vermuten könnte - sondern der auch eine Vorahnung kommender Zerstörungen zu artikulieren scheint: "Mir träumte heut Nacht, es brenne im Dachgeschoss des Wiesenstein in Agnetendorf. Ich sah den Qualm aus dem Turm, aber mehr aus der grossen Dachkammer brechen. Ich selbst ging mit einer Feuerspritze an einem langen Schlauch die Stufen hinauf. Bevor ich aber nun, oben angelangt, Feuer und Rauch entdecken konnte, erwachte ich."

Viel deutlicher erfährt Hauptmann diese Beunruhigung dann am 1. August 1914, als er bekennt, es habe ihn doch Mühe gekostet, "nicht laut aufzuschluchzen angesichts des ungeheuren, nahenden Völkermordens". Wie seltsam unbeteiligt wirkt doch dagegen die berühmte Tagebucheintragung Franz Kafkas, nur einen Tag später: "Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. - Nachmittag Schwimmschule".

Etwa drei Jahre und viele Millionen Tote später hat Ernst Jünger, der zwischendurch sogar einmal Zweifel am Sinn seines soldatischen Tuns äußert ("Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende? [...] Die Sache wird höllisch monoton.", 24. Mai 1917) - so scheint es - immer noch nichts dazugelernt: "Man muß sein Leben so toll und verschroben, so lustig und gefahrvoll, so exzentrisch und abwechslungsreich wie möglich einrichten, dann hat man Genuß daran. Dahinter immer das angenehm kitzelnde Gefühl, daß man am Morgen in einem Riesengefecht 'durchgedreht' wird" (1. Juli 1917).

Als dann endlich alles zu Ende ist, folgert Erich Maria Remarque, der den Krieg noch zehn Jahre später in seinem Weltbestseller "Im Westen nichts Neues" wenig erhellend mit einer bloßen Naturgewalt vergleichen sollte: "Es gibt jetzt Frieden! Eine große Freude herrscht darüber gerade nicht. Man hatte sich wohl an den Krieg gewöhnt. Er war eine Todesursache wie alle anderen auch. Etwas schlimmer als Lungentuberkulose - -." Dass sich auch Hauptmann über diesen Frieden, dessen 90. Geburtstag wir diesen Monat feiern, nicht sonderlich freuen konnte, verwundert nicht: "Wird diesen dunklen Sinn- und Ziellosen Stunden eine Erneuerung und ein neuer Glaube folgen? - [...] Die innere und äussere Zerstörung schreitet fort: was wird aus uns?", fragt er bang.

Walthers Band lesen wir aus heutiger Sicht gerade an solchen Stellen nicht ohne Schauder. Denn der "Glaube", den Hauptmann hier wohl meinte, kam ja zurück - und zwar in Gestalt des Nationalsozialismus. Er provozierte Zerstörungen, gegenüber denen die bunten Fotos des vorliegenden Bandes, die teilweise blühende Mohnwiesen und grüne Felder zeigen, geradezu idyllisch wirken - und er gipfelte in der Shoah, der nahezu kompletten Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen und ihre Handlanger.

Doch das ist schon eine andere furchtbare Geschichte, der wir uns am 9. November, dem Tag der Reichspogromnacht von 1938, besonders erinnern. Sie kündigt sich in Walthers Band jedoch auch schon in Spuren an, die heute nicht mehr ohne Weiteres zu überlesen sind. Selbst bei Thomas Mann. Am 8. November 1918 schreibt er in sein Tagebuch: "Das ist die Revolution!" Es handele sich bei den Organisatoren der Aufstände "so gut wie ausschließlich um Juden", fügt er hinzu, und keine "Militär-Diktatur" könne forscher sein. "München, wie Bayern, regiert von jüdischen Literaten. Wie lange wird es sich das gefallen lassen?"


Titelbild

Peter Walther (Hg.): Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
448 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835303478

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