Sternschnuppen und der Traum vom würdigen Leben

Myra Çakans Cyberpunk-Roman "When the Music´s over"

Von Bettina RoßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Roß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die NGOs schweigen und Peter Brunners Schafe blicken nicht mehr auf in einer Welt, in der Länder und Inseln entweder zerbombt, verseucht oder überschwemmt sind. Durch die Klimakatastrophe, künstlich forcierte Erdbeben, Umweltverschmutzung, Mutationen und gegenseitiges Bombardement ist die Erde quasi unbewohnbar geworden. Die Invasion wurde so für die vierfingrigen Aliens zu einem Kinderspiel. Es gibt keine Presse, die informieren würde, und das "world wide web" ist längst zusammengebrochen. Niemand weiß so genau, welche Verwüstungen auf das Konto der Aliens gehen und welche hausgemacht sind.

Die politischen Verhältnisse sind völlig eskaliert: Die Regierung existiert noch irgendwo, aber keineR weiß eigentlich, wer das ist. In der Praxis sind es die Vierfinger, die die Bevölkerung durch Drogen, Waffengewalt und Vergeltungsmaßnahmen in Schach halten. Der Verdacht liegt nahe, dass Regierung und Multis aus einer ruinierten Welt maximalen Profit zogen, indem sie die Erde gegen Geld und Technologietransfer zur rücksichtslosen, letzten Ausbeutung durch die Vierfinger freigaben. Die Menschen richten sich in diesem Endzeitszenario ein - sie machen ihre Geschäfte, kopulieren, fliehen, werden getötet...

Durch ein verwüstetes Europa ziehen die Heldinnen und Helden von Myra Çakans Roman "When the Music´s over": Jugendliche und Kinder, die sich zu einer militanten Widerstandsgruppe zusammengeschlossen haben; eine "Eskimo" aus den explodierten Kohlehütten Spitzbergens; ein Junge, dessen Eltern ihn in der Flut zurückließen; eine zersplitterte Rockband, SensationsjournalistInnen und ein reichlich aufgelöster Science-Fiction-Autor, der aus der Area 51 geflohen ist. Sie alle treiben durch die Lande und treffen sich schließlich auf "Freezone" - einer aus alten Ölplattformen zusammenschweißten Insel der Künstler und Reichen. Diese AußenseiterInnen sind die neuen HeldenInnen in einer Welt, in der es keine Normalen mehr gibt. Vor allem Skadi aus Spitzbergen, Sunshine, die sechszehnjährige Anführerin der "Tunnelsoldaten" sowie die beiden symbiotischen Brüder Blue und Pierce zeigen den Lesenden eine Welt im 21. Jahrhundert.

Die Figuren in diesem Roman besitzen Charakter, und die Handlung verfügt über Spannung, auch wenn einige der Hinweise fast plakativ wirken. Da ist von Klimakatastrophen, vom Torkeln der Menschheit in die Apokalypse, von präventiven, atomaren Erstschlägen und Survivaltourismus die Rede - Szenerien, die nur zu realistisch daherkommen. Çakan wird hier ihrer Absicht, nur "fünf Minuten in der Zukunft" zu schreiben, gerecht: ihre Welt ist erstaunlich genug, um spannend zu sein, und so realistisch, dass man schon sehr abgebrüht sein muss, um nicht zwischendurch nicht auch mit dem Kloß im Hals kämpfen zu müssen.

Der Versuch der neuen Helden und Heldinnen, Widerstand gegen die Invasion der Vierfinger zu leisten, erscheint fast absurd angesichts der Tatsache, dass die Welt längst zur Ruine herabgewirtschaftet wurde. Selbst die kampferprobte "Sunshine fühlte sich auf einmal unendlich müde. Da saßen sie nun auf einer Insel, die nicht mal eine richtige Insel war, ein Haufen Kinder und Looser, und überlegten, wie sie die Erde von den Vierfingern befreien konnten. Und dabei waren die auf Einladung der Regierungen und der reichen Ärsche da und machten ihre kleinen Geschäfte. Und keiner kümmerte sich darum, weil sowieso alles im Arsch war. Der ganze Planet war im Arsch."

Trotzdem ist "When the Music´s over" kein düsteres Buch. Beim Erzählen schwingt Musik mit, die für Çakan ein "Schreibwerkzeug" ist. Nicht nur auf die Doors, The Cure, Velvet Underground und Beethoven wird hier angespielt. Ebenso souverän verarbeitet die Autorin Klassiker der Filmwelt wie Blade Runner, Twin Peaks, Strange Days, Natural Born Killers und Star Trek.

"When the Music´s over" ist ein lohnendes Buch, komplex, ohne moralistisch zu sein.

Zwei frustrierende Momente gibt es doch: Das Ende ist zu krampfhaft auf Happy End getrimmt, als würde sich die Menschheit durch den Sieg über eins der bestehenden Probleme bereits bessern. Dennoch hat der Schluss auch etwas furioses, wenn Çakan trotz der vom Himmel regnenden Sternschnuppen die Welt nicht untergehen lässt. Çakan glaubt an die Zukunft und daran, dass das Leben lohnt - ein sehender Glaube, der bei der Autorin nichts religiöses hat.

Erstaunlicher und irritierender ist jedoch die latente Homophobie des Romans. Da wird nicht nur das Klischee des schwulen, abzockenden Barbesitzers bedient. Vielmehr gibt es schwules "Begehren" nur als Vergewaltigung durch Mächtigere (Clubbesitzer, Stiefväter, Erzieher). Die Beziehungen zwischen den Außenseitern sind grundsätzlich offen, voller Fragen und über weite Strecken sogar jenseits der Geschlechterrollen - positive Schwule und Lesben gibt es jedoch nicht. Männer, die Analsex mit Gleichgeschlechtlichen suchen, erzwingen ihn - insbesondere mit Kindern. Dies ist nur ein unterschwelliger, aber trotzdem ärgerlicher Faden in der komplexen und spannenden Erzählführung.

Ich hoffe sehr, dass Çakan solch homophobe Töne zukünftig unterlässt. Denn: ich würde Skadi und Sunshine wirklich gerne wiedersehen. Skadi hatte bereits in einer Kurzgeschichte gefordert "Ich will mehr Leben!" und ich bin sehr gespannt auf den nächsten Roman!

Titelbild

Myra Cakan: When the Music's Over. Ein Cyberpunk-Roman.
Argument Verlag, Hamburg 1999.
272 Seiten, 9,10 EUR.
ISBN-10: 3886199452

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