Viele Flammen um Shakespeare

In Stephen Greenblatts "Hamlet im Fegefeuer" stiehlt der Ort des Geschehens dem Protagonisten die Schau

Von Kirsten SandrockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Sandrock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kulturhistorische Studien zur Frühen Neuzeit mag, wird dieses Buch lieben. Wer hingegen eine Untersuchung zu "Hamlet im Fegefeuer" erwartet, der kann direkt von Stephen Greenblatts (wie immer persönlich angehauchtem) Vorwort zum fünften und letzten Kapitel seines gleichnamigen Buches springen. Denn erst darin erhält der im Titel erwähnte Protagonist Einzug in das Werk, während die vier vorhergehenden Kapitel ihre volle Aufmerksamkeit dem Purgatorium als Ort des Geschehens widmen.

Natürlich ist dieses Ungleichgewicht gewollt und folgt den Maximen des von Greenblatt begründeten New Historicism. Danach besitzt der literarische Text keinesfalls Priorität über den kulturhistorischen Kontext, sondern hebt sich lediglich durch bestimmte Defamiliarisierungseffekte von diesem hervor. Demnach sind all solche Texte als Literatur anzusehen, "die den Lesenden auf irgendeine Weise von der Welt abziehen; die eine bestimmte Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Abwehr gegen direkte Referenzen erkennen lassen".

Liebhaber und Puristen mögen sich an solch einer kulturwissenschaftlichen Literaturdefinition stoßen. Doch im Falle von Greenblatts Studie hat sie den genialen Effekt, dass sie das Fegefeuer selbst zu einem literarischen Diskurs erhebt: "So wurde, was wir Ideologie nennen, im England der Renaissance Poesie, Dichtung, genannt." Diesem Credo zufolge schreibt Greenblatt dem Fegefeuer eine rhetorische Wirkkraft zu, die sich in seiner Studie auch ohne explizite Bezugnahme auf Pierre Nora und Jan Assmann als eine Art Erinnerungsraum offenbart.

In vier detaillierten, teilweise etwas weitschweifigen Kapiteln legt Greenblatt dar, wie der Glaube an das Purgatorium die Erinnerung an die Toten in der Renaissance aufrecht erhalten sollte. Dabei dienten religiöse Rituale nicht nur dazu, die toten Seelen vor dem Vergessen zu bewahren, sondern sie "halfen" auch der spätmittelalterlichem Kirche, ihre Vorherrschaft im post-reformatorischen Großbritannien zu erhalten.

Schließlich baute der Klerus auf den Erhalt von Ablasszahlungen und nutzte den Glauben an das Fegefeuer, um die eigene Autorität im sich fortschreitend säkularisierenden Europa zumindest teilweise zu erhalten: "Eine riesige Kirchenhierarchie bediente den Kult um die Toten, ein steter Geldfluß gelangte in die Hände dieser Spezialisten für die toten Seelen, es blühten die religiösen Praktiken, die viele, auch manche Katholiken, als abergläubisch betrachteten, und alle Aspekte des Gemeindelebens waren durchtränkt von Vorstellungen des Todes."

Mit gewohntem Sinn für Ironie beschreibt Greenblatt, dass es sich selbst Heinrich der VIII. nicht nehmen ließ, "die Gebete vieler armer Menschen [zu] kaufen", um dadurch "seinen Weg in den Himmel [zu] beschleunigen"- natürlich nur, so Greenblatt über den Herrscher, der in weiten Teilen der Population noch immer als Inbegriff des englischen Protestantismus gilt, "[f]ür den unwahrscheinlichen Fall, daß er nicht direkt in die Hölle gefahren ist." Dieser Kombination von Wissenschaft und Witz lässt selbst die kulturhistorisch ausgerichteten Kapitel von "Hamlet im Fegefeuer" zu einem Lesevergnügen werden, was nicht zuletzt der gelungenen Übersetzung Klaus Binders zu verdanken ist.

Binder, der bereits Greenblatts Adorno-Vorlesungen "Shakespeare: Freiheit, Schönheit und die Grenzen des Hasses" (2006) aus dem Amerikanischen übersetzte, adaptiert gekonnt den gleichsam profunden und beschwingten Stil Greenblatts. So ist sich der Übersetzer nicht zu schade, komplexe Passagen, wie etwa eine über die "literarische Erfahrung" als "ausdrucksvolles Muster der Erkundung symbolischen Leidens und psychischer Entlastung" mit einem trivialen "Wie schon gesagt" zu beginnen. Auch übernimmt Binder Greenblatts geliebte "That is"-Konstruktion, die er im Deutschen mit der beinahe ironisch an Shakespeare erinnernden Formel "Will sagen" wiedergibt. Dass die Suhrkamp'sche Beibehaltung der alten Rechtschreibung diese Kombination von wissenschaftlicher Lässigkeit und Eleganz akzentuiert, kann dem Geist von "Hamlet im Fegefeuer" im Grunde nur Recht sein. Denn was ist die Schule des New Historicism sonst, wenn nicht eine Kombination von Alt und Neu, die in anachronistisch anmutender Weise die Rangfolgen des Populären auf den Kopf stellt?

Dies tut auch Greenblatt, wenn er im fünften Kapitel die vorher gewonnenen Erkenntnisse über das kulturreligiöse Gedächtnis der Renaissance auf "Hamlet" anwendet und mit einem wohl hergeleiteten Coup d'État die bisher überzeugendste Lesart des väterlichen Geistes in Shakespeares Drama liefert. Entgegen gängiger Interpretationsmuster deutet Greenblatt die berühmten "Gedenke mein"-Worte nicht länger rein individualpsychologisch, sondern führt deren Wirkkraft auf die kollektive Purgatoriumsphobie der Frühen Neuzeit zurück. Denn wer, wenn nicht der Sohn, sollte den herumirrenden Geist des Vaters von seinen Höllenqualen befreien? Wer, wenn nicht der Sohn, solle des ermordeten Königs gedenken, wenn die Mutter bereits in den Armen eines neuen Königs liegt?

So kommt Greenblatt letztendlich zu seiner These, dass "Hamlet" die Fegefeuerdebatte nicht nur aufgreift, sondern dass sich die Bedeutung des Dramas nur vor diesem kulturwissenschaftlichem Hintergrund erschließt: "das Psychologische in Shakespeare [sic] Tragödie [wird] fast ausschließlich aus dem Theologischen heraus konstruiert [...], und hier vor allem aus der großen Frage der Erinnerung, die, wie wir gesehen haben, im Mittelpunkt der so folgenreichen Debatten steht, die Anfang des sechzehnten Jahrhunderts um das Fegefeuer ausgefochten wurden."

Verschönt wird Greenblatts kulturhistorische Deutung nicht zuletzt durch eine Reihe von Abbildungen (unter anderem von Hieronymus Boschs "Aufstieg in das himmlische Paradies" sowie weniger geläufigen Illustrationen aus Stundebüchern von Edward Lord Hastings oder Phillip dem Gerechten), die "Hamlet im Fegefeuer" zu dem machen, was es ist: Eine sehr gut lesbare und erkenntnisreiche Studie, in welcher der Protagonist zwar erst im Abgang auftritt, aber darin um so eindringlicher durch die vielen Flammen um ihn herum in Szene gesetzt wird.


Titelbild

Stephen Greenblatt: Hamlet im Fegefeuer.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Klaus Binder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
427 Seiten, 26,80 EUR.
ISBN-13: 9783518585078

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