Der Schlaf der Vernunft gebiert die Träume der Genetik

Die Utopien der Gentechniker

Von Toni ÄutzcheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Toni Äutzche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fieberhaft arbeiten derzeit Genetiker an der völligen Entschlüsselung des Humangenoms. Die Zielgerade ist in Sicht und es scheint nur noch eine Frage kürzester Zeit zu sein, bis der Sieger den Lorbeer davonträgt. Das beflügelte vor nicht allzu langer Zeit einen Nichtgenetiker zu allerlei Träumereien, die so manchem Alpträume verursachten.

Bereits zuvor hatte der kleine Mabuse-Verlag ein Buch über die "Träume der Genetik" auf den Markt gebracht, in dem Ludger Weß eine kenntnisreich und erhellend bevorwortete Dokumentensammlung zusammengetragen hat. In ihr hängen die Fachmänner selbst - Frauen sind keine darunter - ihren Träumen nach. In den Texten, meist Auszüge aus Büchern und Aufsätzen, sind die "Beweggründe und Absichten" für ihre Arbeit festgehalten, ihre "Träume von der Macht über das Leben, die mit Hilfe von Gen-Technik möglich werden sollen". Eine neuer, ein besserer Mensch soll geschaffen werden, und mit ihm eine neue, bessere Welt. Zwar träumte der Autor des ältesten vorgestellten Textes, Alfred Ploetz, 1895 in seinem Buch "Grundlinien einer Rassenhygiene" davon, den "idealen Rasseprozeß" in Gang zu setzen, doch haben die meisten der Autoren nichts mit rassistischem Gedankengut und sozialdarwinistischer Eugenik im Sinn: "Erträumt wird die Überwindung von Rassen- und Klassenschranken, die Sicherung von Frieden, Wohlstand und lebenslanger Gesundheit und die Befreiung der Frau von den Lasten und Pflichten der Reproduktion."

Als es in den späten 20-er und 30-er Jahren in der UdSSR darum ging, den neuen, den Sowjetmenschen zu schaffen, setzten auch russische Wissenschaftler ihre Hoffnungen auf die Genetik. Aleksandr Serebrovskji etwa bedauerte 1929 in seinem Aufsatz "Anthropogenetik und Eugenik in der sozialistischen Gesellschaft", dass die "Anthropogenetik [...] als Tochter bürgerlicher Eltern" in der Sowjetunion lange Zeit nicht habe richtig Fuß fassen können. Schließlich sei sie aber doch zum "gern gesehenen Gast" geworden, und inzwischen stehe fest, dass nicht der deutsche Nationalsozialismus, sondern allein der "Sozialismus" das Problem lösen könne, "wie die Auslese in der menschlichen Gesellschaft zu organisieren" sei.

Eine aufschlussreiche Dokumentensammlung also. Allerdings darf man nicht erwarten, Beiträge zur aktuellen Diskussion zu finden. Die erste Auflage das Buches ist nunmehr rund zehn Jahre alt, und das jüngste der hier versammelten Dokumente stammt aus dem Jahre 1962. Dennoch handelt es sich auch heute noch um ein wichtiges Buch: ist es doch stets von Vorteil, die Geschichte einer Diskussion zu kennen, wenn man aktuelle Stellungnahmen und Positionen verstehen und beurteilen will.

Titelbild

Ludger Weß: Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt.
Mabuse Verlag, Frankfurt 1998.
228 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 392910606X

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