Die zahlreichen Facetten der 'Wielandizität'
Jutta Heinz gibt ein neues Wieland-Handbuch heraus
Von Clarissa Höschel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweisePünktlich zu Christoph Martin Wielands 275. Geburtstag ist das vorliegende Handbuch erschienen - das zweite übrigens nach dem 1994 erschienenen Handbuch des Kopenhagener Wieland-Kenners Jørgensen (Sven Aage Jørgensen: Christoph Martin Wieland: Epoche, Werk, Wirkung. München, C. H. Beck 1994). Die eineinhalb Jahrzehnte, die zwischen diesen beiden Handbüchern liegen, rechtfertigen alleine sicher keine neue Ausgabe - was also zeichnet das vorliegende Handbuch besonders aus?
Rekapituliert man die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte dieses ebenso spannenden wie schwierigen Dichters, Publizisten und Aufklärers, ist zunächst festzuhalten, dass die aktuelle Phase der Wieland-Rezeption und -Forschung zu Beginn der 1980er-Jahre ihren Anfang genommen hat. Wielands 250. Geburtstag im Jahr 1983 bot seinerzeit den Anlass für Kolloquien in Biberach und Halberstadt, denen einige wichtige Publikationen folgten.
Seit Beginn der 1990er-Jahre erscheinen die der Erforschung von Leben und Werk gewidmeten "Wieland-Studien", 1994 folgt das erwähnte erste Wieland-Handbuch und 1996 wird Wieland als Denker der Aufklärung porträtiert (Klaus Schaefer: Christoph Martin Wieland. Stuttgart, Metzler 1996). Seither wird der Autor zwar zunehmend rezipiert und immer mehr geschätzt - besonders seine späten Romane erfreuen sich wachsender Beliebtheit - doch trotz all dieser Bemühungen ist er heute außerhalb der Literaturwissenschaft weitgehend vergessen. Das liegt, so die Herausgeberin in ihrem Vorwort, an Wielands für heutige Gewohnheiten äußerst schwieriger Sprache, an seinem sehr elaborierten Stil und nicht zuletzt auch an der poetisch globalisierten Welt voller Anspielungen, Zitate, Figuren und Personal aus anderen Kontexten, die er in seinen Texten gestaltet. Diese Texte rechnen gleichsam mit einem mündigen, engagierten, aktiven Leser, den sie, so sie ihn gefunden haben, am liebsten in ein unterhaltendes, aber dennoch tiefgründiges Gespräch verwickeln.
Umgekehrt muss aber auch der Leser diese Texte erst finden, und gerade das ist bislang im Falle Wielands gar nicht so einfach, mangelt es doch nach wie vor an einer historisch-kritischen Gesamtausgabe. Und gerade diese unzulängliche Editionslage hat dazu geführt, dass dem vorliegenden Handbuch gleich zwei Werkausgaben zugrunde gelegt werden mussten, nämlich die 1984 als Hamburger Reprint erschienene Leipziger Ausgabe letzter Hand der Sämmtlichen Werke (1794-1811) und die Akademie-Ausgabe, jene bereits um 1900 geplante und nie vollendete historisch-kritische Ausgabe von Wielands Gesammelten Schriften.
Dem soll nun mit einem von der DFG mit 2,5 Mio. Euro geförderten Großprojekt abgeholfen werden: an der Universität Jena, an der auch die Herausgeberin arbeitet, entsteht derzeit eine auf 36 Text- und Apparatbände angelegte Wieland-Gesamtausgabe, die das Werk des Dichters einschließlich seiner Übersetzungen und der politischen und literaturkritischen Schriften in chronologischer Reihenfolge in einer ersten vollständigen und kommentierten Edition veröffentlichen will. Vor diesem Hintergrund kann das vorliegende Handbuch mit seinen insgesamt 50 Beiträgen von 23 namhaften AutorInnen durchaus als Vorgeschmack auf diese Gesamtausgabe betrachtet werden - hier wie dort ist es das vorrangige Ziel, den Zugang zu Wielands Texten zu ermöglichen und Wieland dadurch lesbar(er) und verstehbar(er) zu machen.
Entsprechend bietet der zentrale dritte Teil auf über dreihundert Seiten Aufsätze und Artikel zu Wielands Werken, in acht Unterabteilungen nach Genre und Chronologie geordnet. Die zugrunde liegende Werkauswahl ist zwar nicht vollständig, aber doch zusammengestellt mit dem Ziel, eine möglichst breitgefächerte Werkeinsicht zu geben und auch vergessene Werke mit einzubeziehen. Die Werkartikel folgen einem einheitlichen Schema und bieten, neben Grundlageninformationen zu Entstehung, Quellen und Druckgeschichte, Inhaltswiedergaben und Charakterisierungen wichtiger formaler und stilistischer Merkmale sowie Interpretationsansätze unter Einbeziehung der Forschungsgeschichte und Ausführungen zu Rezeption und Wirkung. Alle Artikel enthalten ein eigenes Literaturverzeichnis mit Daten zu Buchausgaben, Quellen und der einschlägigen Forschungsliteratur.
Die zweite Säule des Handbuchs bilden die Überblicksartikel, die sich auf knapp 100 Seiten mit Wielands Verhältnis zu den Diskursen seiner Zeit beschäftigen. Dort wird Wieland als lutherisches Pfarrerskind im Kontext aufgeklärter Religionskritik ebenso porträtiert wie als Verfasser des ersten deutschen Blankversdramas ("Lady Johanna Gray"; 1758), als Shakespeare-Übersetzer oder als Librettist der ersten deutschen Oper ("Alceste"; 1773); der Erfurter Philosophieprofessor wird ebenso gewürdigt wie der bislang kaum wahrgenomme politische Autor - und der poeta doctus wird in einen direkten Bezug gesetzt zum Herausgeber des "Teutschen Merkur".
Das letzte Drittel dieser Exkurse zu den Diskursen der Wieland-Zeit beschäftigt sich mit Wielands Verhältnis zur Weltliteratur - angefangen von seiner Antikenrezeption über die ihm oft angelastete Vorliebe für die französische Aufklärungsliteratur, seinen Einfluss als Vermittlungsinstanz der italienischen und seine durch Johann Jakob Bodmer geprägte Rezeption der englischen Literatur bis hin zu seinem Einfluss auf die deutsche Literatur, die er zwischen 1750 und 1810 maßgeblich mitgeprägt hat: Im Poetikstreit der 1750er-Jahre zwischen Gottsched und den Schweizern stand er als junger Dichter auf der Seite des alten Bodmer. Die 1760er-Jahre verbrachte er dagegen vor allem mit der Übersetzung Shakespeare'scher Stücke, die einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Dramatik nahmen. Die bald emporstrebenden Stürmer und Dränger - allen voran Goethe - wiederum gingen ab 1773 hart mit Wieland ins Gericht. Doch gerade Goethe würdigte ein Jahr später den Dichter, Übersetzer und Herausgeber des "Teutschen Merkur", um ihn dann in den "Xenien" (1796) wieder einmal zu verunglimpfen. Die Schlegel-Brüder schließlich eröffneten den Athenäums-Streit der Frühromantik, während sich Wieland mit der Gelassenheit des Alters nach Oßmannstedt zurückzog, wo um die Jahrhundertwende sein "Aristipp" entsteht. Erst das Junge Deutschland bringt um 1813 eine erste Würdigung Wielands, die sich nach der Reichsgründung von 1871 zwar langsam und im Kontext des Positivismus zu konsolidieren beginnt, ohne deshalb aber Fundament genug zu sein für eine dauerhafte Rezeption.
Die Summe dieser Überblicksartikel schafft es, trotz der fast nicht vermeidbaren thematischen und inhaltlichen Überschneidungen, am ehesten einen Eindruck von der Vielgestalt der Wieland'schen Interessen, Begabungen und Betätigungsfelder zu geben. Diese Vielgestalt steht schließlich, unter dem programmatischen Begriff der 'Wielandizität', im Mittelpunkt des als lockere Zusammenfassung konzipierten Essays des vierten Teils, und zwar für das ganz Eigene und Eigentümliche, das sich sowohl durch das Leben wie durch das Werk dieses über die Maßen begabten, gebildeten und eigenwilligen Aufklärers zieht und den Weg eines schwärmerischen Jünglings zum skeptischen Erwachsenen nachzeichnet, der aktiver Zeuge verschiedener literarischer und geisteswissenschaftlicher Strömungen seiner Zeit war, die sich vielfach in den einzelnen Phasen seines Schaffens niederschlagen.
Das Konzept des Buches ist in sich stimmig und dem primären Charakter des Handbuches als Nachschlagewerk angemessen. Auf eine Gesamtbibliografie wurde zugunsten der Teilbibliografien am Ende jedes Werkartikels verzichtet. Auch fehlen Überblicksartikel zu den einzelnen literarisch-schriftstellerischen Facetten Wielands, was aber durch die ausführlichen Ausführungen zu den zeitgenössischen Diskursen teilweise kompensiert wird.
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