Wo ist Bob Dylan?

Über den vermeintlich politischen Roman "Eat the Document. Die perfekte Tarnung" von Dana Spiotta

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ausgangspunkt von Dana Spiottas Erzählung ist ein missglücktes Attentat auf das Haus eines Waffenfabrikanten. Bei einer Bombenexplosion kommt versehentlich eine Hausangestellte des Industriellen ums Leben. Die beiden verantwortlichen Attentäter Mary Whittaker und Bobby de Soto, ein angehender Filmemacher, entscheiden sich unterzutauchen. Das Paar trennt sich, gibt die eigenen Identitäten auf und versucht einen "Neuanfang" mit neuem Namen - jeweils an verschiedenen Orten und ohne weiteren Kontakt zueinander. Für Mary wie für Bobby beginnt eine abenteuerliche Reise mit verschiedenen Identitäten, mehreren Namenswechseln und die psychischen Problemen, die ein Leben auf der Flucht mit sich bringt.

Das als politischer Roman angekündigte Buch von Dana Spiotta wartet zuerst einmal mit einem Inhaltsverzeichnis auf, das den Leser auf eine verschachtelte Erzählstruktur aufmerksam macht. Auffällig ist, dass dort der Eintrag "Jasons Tagebuch" wiederholt auftritt. Auf den zweiten Blick findet man eine Einteilung in Zeitabschnitte, die nicht chronologisch angeordnet sind. Die Chronologie der Ereignisse stellt sich dann bei der Lektüre nach und nach ein - ebenso wie sich die Verbindungen der Protagonisten für den Leser erst auf den letzten Seiten entschlüsseln.

Die Handlung des Romans orientiert sich an der indirekten Hauptfigur Mary. Nach mehreren Zwischenstationen hat sie ein neues Leben und einen neuen Partner gefunden. Sie wird schwanger und bekommt einen Jungen namens Jason. Dieser ist der zweite Handlungsträger des Romans. Der Roman beginnt mit Jasons Interesse an der Vergangenheit seiner Mutter. Im Internet entdeckt er zufällig die ursprüngliche Identität seiner Mutter und beginnt mit Recherchen, die ihn zu dem Attentat und zu einer ihm bisher verborgenen Vergangenheit führen. Dabei schafft es Spiotta, die Entwicklung des Jugendlichen mit der Geschichte seiner Mutter zu synchronisieren, und man hat plötzlich eine eindringliche Schilderung einer Mutter-Sohn-Beziehung im Kontext von Pubertät und Adoleszenz vor sich. Hier drängt sich eine vermeintliche "Nebenhandlung" nicht zum Schaden des Romans in den Vordergrund.

Interessanterweise benennt Spiotta den Roman nach dem als verschollen geltenden Dokumentarfilm "Eat the document" von und über Bob Dylans Großbritannien-Tour von 1966. Es war die Tour, auf der Dylan erstmals mit elektrischer Gitarre aufgetreten war, was für viele seiner Fans als Bruch mit der Tradition der Folkmusik aufgefasst wurde. Die Anlehnung an diese Geschichte der Rock- und Popmusik wird über die Betitelung hinaus thematisch von den Ausführungen zur Musikgeschichte und Popkultur in Jasons Tagebuch begleitet. Seien es die detaillierten Gedankenspiele über die Beach Boys, die Wilson Brüder und die Arbeit an ihrem Album "Pet Sounds" - oder zu den "P-Funk All Stars" und "Funkadelic" - sie zeugen von kompetentem Detailwissen. Es ist Jason, der seine Mutter mit ihrer Vergangenheit und seinen Recherchen dazu konfrontiert und dem die Erzählerin ein zusammenfassendes Schlußwort in den Mund legt.

Jason entdeckt, dass sich mit seinen Erkenntnissen über seine Vergangenheit seine Gegenwart verändert, unter anderem sein Verhältnis zu seiner bisher innig geliebten Musik der "Beach Boys". Musik ist identitätsstiftend. Die vermeintliche Einschränkung wird aber in ein Moment der Befreiung verkehrt: für Jason ebenso wie für den Leser: "Erstens werde ich sie [meine LPs, CDs, Singles und auch Eps, T.N.] irgendwann so lange nicht gehört haben, dass sie mir wieder frisch und neu vorkommen. Vielleicht entsteht wieder eine Verbindung zwischen der Musik und mir, die sogar viel reifer sein könnte, weil ich älter und vermutlich selbst reifer geworden sein werde. Vielleicht fallen mir Dinge auf, die ich in jüngerem Alter nicht hören konnte. Vielleicht werde ich wieder genauso verzaubert, genauso begeistert und gefesselt sein. Vielleicht verliebe ich mich wieder ganz von Neuem. All das könnte passieren. Das ist doch möglich, oder?" Kurz: Ein intelligentes, unterhaltsames und lesenswertes, wenn auch in manchen Passagen ein etwas "umständliches" Buch.


Titelbild

Dana Spiotta: Eat the Document. Die perfekte Tarnung.
Übersetzt aus dem Englischen von Hannes Meyer.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
350 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783462040180

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