Irische Familienbilder

Colm Tóibín legt mit "Mütter und Söhne" seinen ersten Band mit Erzählungen vor

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Literatur dienen Personenkonstellationen von Eltern und ihren Kindern oftmals der Darstellung von Generationenkonflikten. Über das Individuelle menschlicher Beziehungen hinaus verweisen etwa die vielen Vater-Sohn-Konflikte besonders in den Dramen des Sturm und Drang und des Expressionismus meist auch auf epochale literarästhetische, weltanschaulich-moralische oder religiöse Konstellationen, die sich allegorisch in einer Familie abbilden lassen. Sofern die Mütter in der Aufklärungs- und Spätaufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts überhaupt vorkommen, verkörpern sie meist - wie in Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" - das unaufgeklärte Bürgertum, das keinen Anteil an der Auflösung religiös-orthodoxer Weltbilder nimmt.

Gut ein Jahrhundert später verarbeitete Iwan Turgenjew die Auseinandersetzung der russisch-nationalistischen Vätergeneration mit der sich westlichen Strömungen wie dem Nihilismus hingebenden Kindergeneration in einem Roman, dessen Titel "Väter und Söhne" - der nach dem russischen Original eigentlich "Väter und Kinder" heißen müßte - bereits auf das Thema anspielt und an den sich offensichtlich auch Colm Tóibín mit seiner ersten, bereits 2006 im englischen Original ("Mothers and Sons") erschienenen Sammlung von insgesamt zehn Erzählungen anlehnt.

Doch geht es in den nahezu ausschließlich von auktorialen Erzählern dargebotenen Geschichten weniger um Generationenkonflikte als vielmehr um die Darstellung gestörter und auf die Probe gestellter, bedingungsloser und kritischer, in jedem Fall aber psychologisch hochkomplexer Mutter-Sohn-Beziehungen. Bis auf die vorletzte Erzählung "Ein langer Winter", die in Spanien spielt, sind alle Handlungsschauplätze der Texte in Irland angesiedelt. Neben seiner vielbeachteten Romanbiografie über Henry James' englische Jahre ("Porträt des Meisters in mittleren Jahren", deutsch 2005), in der Tóibín ein durch seine poetische Sprache eindringliches Bild vom künstlerischen und privaten Innenleben des amerikanischen Schriftstellers präsentierte, hat der 1955 geborene Tóibín in seinen älteren, von der Kritik vielfach gerühmten Romanen "Flammende Heide" (deutsch 1996) und "Das Feuerschiff von Blackwater" (deutsch 1999) wie auch jetzt in den Erzählungen immer wieder seine irische Heimat thematisiert.

Zwar stammt das Personal der Geschichten aus ganz unterschiedlichen Milieus, so dass vom Kleinkriminellen über den Geistlichen, den Klein- und Normalbürger alle vertreten sind. Doch sind auch noch die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und -läufe der Protagonisten geprägt von Irlands katholischem Erbe, den größtenteils dörflich geprägten Lebensräumen und der daraus resultierenden Gesellschaftsstruktur. Wie beklemmend all das sein kann, veranschaulicht die Geschichte einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes den kleinen Familienladen für Lebensmittel weiterführt, aber durch die übermächtige Konkurrenz einer sich in der Nähe ansiedelnden Supermarktkette überrollt und finanziell an den Abgrund getrieben wird, womit die Geschichte nebenbei auch konsumgeschichtliche Wandlungen unserer modernen Welt aufgreift und nachzeichnet ("Die Parole").

Wie auch in allen anderen Geschichten wird in der Erzählung sehr genau die Stellung der Frau mit ihren Kindern im dörflichen Sozialsystem beschrieben. Der am Geschehen unbeteiligte Erzähler präsentiert die Ereignisse in einer lakonischen, einfachen und sachlichen Sprache, die von den Übersetzern Giovanni und Ditte Bandini - wie schon in "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" - mustergültig und meisterhaft ins Deutsche übertragen wurde. Doch bietet der Text auch immer wieder intime und subtile Einblicke nicht nur in das Innenleben der Helden, sondern auch in Kommunikationsabläufe, etwa, wenn die Frau versucht, durch einen neuen Kredit ihren Laden in einen Fish-und-Chips-Imbiss umzubauen und sie schnell merkt, dass der Bankberater ihrer Idee und Person negativ gegenübersteht: "Die längste Pause trat jetzt ein. Sie verfiel auf etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie hatte es getan, wenn sie sich über ihre Mutter geärgert hatte, und sie hatte es getan, als sie angefangen hatte zu arbeiten, und George gegenüber hatte sie es auch getan, aber nur in den ersten ein, zwei Jahren ihrer Ehe. Sie schrieb mit ihrem Finger das Wort FUCK auf ihren Rock, ruhig, unauffällig, aber mit Bedacht. Und dann tat sie es noch einmal. Und als sie fertig war, schrieb sie andere Wörter, Wörter, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie laut ausgesprochen hatte. Sie hielt die Augen fest auf den Filialleiter gerichtet, während sie, unbemerkt, fortfuhr, diese Wörter unsichtbar aufzuschreiben."

Letztlich gelingt es der Frau doch, ein neues und profitables Geschäft aufzubauen, das auch ihrem Sohn eine Beschäftigung bietet. Ist der Laden für ihn tatsächlich die Perspektive für seine Zukunft, so dient er seiner Mutter nur dazu, genügend Geld zu verdienen, um mit den Kindern nach Dublin zu gehen und ihnen dort ein Studium zu ermöglichen. Allerdings bleibt das Ende der Geschichte, wie bei allen anderen, offen.

Ausgangspunkt einer anderen Erzählung ("Drei Freunde") ist der Tod der Mutter und die Gedanken ihres Sohnes Fergus bei der Betrachtung ihrer Leiche: "Er war versucht, ihr ein paar tröstende Worte zuzuflüstern, ihr zu sagen, dass alles gut werden würde, dass sie in Frieden ruhte. Er stand auf und sah sie an. Ihr totes Gesicht hatte nichts von der Weichheit ihres lebendigen Gesichts. Er hoffte, dass er es eines Tages schaffen würde zu vergessen, wie sie jetzt aussah, reglos in ihrem Sarg, mit schwachen Spuren eines alten Kummers hinter der Maske aus Ruhe und Frieden und Unbeweglichkeit."

Nach der Beerdigung begibt sich Fergus trotz seiner Trauer mit drei Freunden auf den Weg zu einer Raverparty, auf der die vier reichlich Drogen konsumieren. Mit ihnen hofft Fergus, seine Trauer verarbeiten können. Aber unter ihrem Einfluss macht er auch seine ersten homoerotischen Erfahrungen mit Mick, bei dem nicht klar wird, ob es sich - wie bei Fergus - um nicht eingestandene generelle sexuelle Neigungen oder nur um Launen handelt. Wie schon im Roman "Das Feuerschiff von Blackwater" geht es hier nicht nur um die Darstellung sexueller Präferenzen junger Männer, sondern auch immer um das Thema Homosexualität und ihre Bewertung in der Provinz und auf dem Land.

Die einzelnen Texte verbindet sowohl das im Titel schon genannte Oberthema der Mutter-Sohn-Beziehungen als auch - und mehr noch - die Gattung der sozialen Erzählung, in die sie sich durchweg einordnen lassen. Allerdings sind die Geschichten schon zuvor in unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Der Band stellt insofern also keine Zusammenfassung von Texten aus weit auseinander liegenden Schaffensperioden dar, die die Entwicklung eines Autors zeigen oder als Teile eines Zyklus intendiert waren. Dennoch kennzeichnet den Band eine überraschende Homogenität. Dies liegt vor allen an der den Texten eigenen dichten Darstellungsweise der Ereignisse, Handlungen und Gedanken der Protagonisten.

Tóbín hat keine klassischen Short-Stories, keine Novellen vorgelegt, in denen Unerhörtes geschieht. Seine Erzählungen zeichnen alltägliche, wenn auch schmerzliche Momente im Leben von Menschen und Familien nach: Todesfälle, Entfremdungen, Wiederbegegnungen und Enthüllungen. Was den Leser bei der Lektüre nicht mehr loslässt, ist die Einfachheit und Alltäglichkeit des Dargestellten, das aber durch die präzise Beobachtung familiärer Bindungen und Umgangsformen eine eigentümliche Spannung gewinnt. Wie in der einzigen aus der Ich-Perspektive erzählten Geschichte "Eins minus eins", in der ein Sohn von Amerika wegen des Todes seiner Mutter "im verwaschenen Licht eines frühen Septembermorgens" nach Irland zurückkehrt und sich nach sechs Jahren an diese Tage erinnert, werden immer nur ausschnitthaft einzelne Lebensabschnitte der Figuren gezeigt, in denen sich dennoch synoptisch ihr ganzes Leben abbildet. Allerdings handelt es sich meist um Scharnierstellen im Lebensweg der Protagonisten, die eben darum auch einen Rückblick in deren Vergangenheit und Ausblick in die zukünftige Entwicklung gewähren.

Tóibíns Erzählungen sind traurige Geschichten, die aber nicht traurig, sondern nur nachdenklich machen, es sind einer realistischen Schreibweise verpflichtete, scheinbar kunstlose Geschichten. Und sie präsentieren eine Welt, Personen und Ereignisse, die uns angehen und darum auch anrühren. Sie bieten keine Erklärungen für die Handlungsmotivationen und Reaktionen ihrer Protagonisten, wodurch sie auch einen gewissen fatalistischen Grundcharakter aufweisen. Meist erst durch eine Verlusterfahrung erkennen ihre Hauptfiguren, welchen Wert das Verlorene - sei es die Mutter, der Glaube, die Kindheit oder Jugend - für sie eigentlich besessen hat.


Titelbild

Colm Tóibín: Mütter und Söhne. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230637

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