Ostdeutschland revisited…

Claudia Rusch schreibt in „Aufbau Ost“ über ihre Prägung in der DDR

Von Manuela LückRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuela Lück

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Fall der Mauer und der Untergang der DDR jähren sich im kommenden Herbst zum zwanzigsten Mal. Zeit, um zurückzublicken und zu fragen: Wie leben die Menschen mit den Erlebnissen und Erfahrungen, die sie in der Diktatur gemacht haben? Was bleibt vom Alltag in der DDR, jenseits von Nostalgie und Repression? Wie sind sie angekommen im neuen Deutschland, in Europa?

Claudia Rusch, bekannt durch die autobiografischen Kurzgeschichten „Meine freie deutsche Jugend“ (2005), macht sich auf zu einer Reise durch die fünfzehn ehemaligen Bezirke der DDR, von Norden nach Süden, entlang der östlichen und westlichen Grenze und zurück nach Berlin. Was sie von ihrer imaginären „DDR“-Karte mitbringt, sind fünfzehn Geschichten zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Ankommen und Zurückbleiben. Die Texte sind keine Bestandsaufnahme über die Erfolge des „Aufbau Ost“, – so der Titel des Buches –, sondern Erinnerungen an den früheren Alltag der Menschen zwischen Anpassung und Unterdrückung, ihrem nicht immer hindernisfreien Ankommen im westlichen Gesellschaftssystem, der Kampf um die Anerkennung ihrer individuellen biografischen Prägungen und die oft schmerzhafte Auseinandersetzung mit den Folgen der DDR-Diktatur.

Die Autorin wählt auch in ihrem neuen Buch den autobiografischen Ansatz und beginnt mit ihrer eigenen Familiengeschichte, dem Schicksal ihres Großvaters. Dieser starb unter bis heute ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Rostock. Der Besuch in der heutigen Gedenkstätte, einer jener Ort, wo die DDR-Diktatur am unbarmherzigsten und grausamsten war, und die Begegnung mit dem früheren Mitgefangenen des Großvaters lassen sie begreifen, dass sie ihr Überleben nur dem Glück und ihrer Jugend verdankt. Es sind Schicksale wie das des Großvaters, die einem als Leser bewusst werden lassen, dass es hier nicht um Erinnerungen an eine glückliche Kindheit und Jugend in der DDR geht, sondern um die Auseinandersetzung mit einem System, dass jedem, der sich nicht unter- und einordnete, Schwierigkeiten machte. Das Funktionieren der DDR-Diktatur war allerdings weitaus komplexer und umfassender, als es viele Begriffe, die dies zu beschreiben versuchen, fassen könnten. Nischengesellschaft ist einer davon.

Claudia Rusch gelingt es in ihren Episoden, davon zu erzählen, wie man sich trotz allem ein Stückchen Selbstbestimmung, Individualität und ein bisschen Ungehorsam gegenüber dem angeblich alles kontrollierenden Staat bewahren konnte. Sei es als Akt der Aufmüpfigkeit, dem Einschmuggeln von Pilzen in die Kaserne während des Wehrdienstes an der innerdeutschen Grenze oder im trotzigen Beharren und Improvisieren, um die Zulassungsbeschränkungen für ein Studium zu umgehen. Es finden aber auch Dinge ihren Platz, die die Wende überlebt haben und nun zum Inbegriff einer ostdeutschen Identität und Kultur geworden sind. Natürlich das, um eine weiblichen Form erweiterte, Ampelmännchen, Wein und Sekt aus Thüringen, Porzellan aus Bürgel und Kahla, die bis heute überlebenden Sprachschöpfungen wie Polylux und Plaste und die tief im Gedächtnis vergrabenen lexikalischen Hinterlassenschaften des jahrelangen Russischunterrichts.

Jede Reise, jeder Ort, den Rusch besucht, ob nun den Spreewald, die Besichtigung des Stadtumbaus Ost in Halle-Neustadt, des kaum von der Moderne berührten Südens Thüringens oder des wild durchmischten und lebendigen Berlins, sind Ausgangspunkt für Reflexionen über das Erbe der DDR und das Ankommen in Europa. Was die Episoden von Rusch daneben so bemerkenswert machen, ist die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Es ist ein Erzählen von einem früheren Leben mit all seinen Prägungen, Beschränkungen und Unfreiheiten und den Schwierigkeiten in der Suche nach der eigenen Identität und einer Zukunft, die nur in Europa liegen kann. Rusch beschreibt offen ihre Probleme, sich den persönlichen Klischees und Vorurteilen zu stellen, allmählich die eigenen biografischen Prägungen zu akzeptieren und zu einer Identität zu finden, die beides einschließt, Ost und West.

Am Ende ist jede Reiseetappe, eine Reise zu sich selbst, zur eigenen Geschichte, zu der der Familie, der Herkunft – und steht damit stellvertretend für die Erfahrungen vieler Ostdeutscher. Auch wenn viele Themen und Auseinandersetzungen bereits bekannt sind, gelingt es ihr, neue Aspekte zu beleuchten, und es wird die eigentliche Leistung vieler Ostdeutscher sichtbar, eine Diktatur zu überwinden, sich ihr zu stellen und anzukommen in der Freiheit.

Titelbild

Claudia Rusch: Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
19 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783100660633

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