Transepochale Affinitäten

Ein von Martin Zenck herausgegebener kulturwissenschaftlicher Sammelband zu Signatur und Phantastik in der frühen Neuzeit

Von Anja BeckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Becker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Giuseppe Arcimboldos Köpfe, Albrecht Dürers Graphiken, Pedro Calderóns Dramen oder Carlo Gesualdos Musik - solche manieristisch-fantasievollen Kunstwerke sind Gegenstand dieses von Martin Zenck herausgegebenen Sammelbandes. Die zwölf Beiträge aus den verschiedensten kulturwissenschaftlichen Disziplinen befassen sich aber nicht nur mit der Malerei, dem Theater und der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, sondern auch mit ästhetischen und wissenschaftlich-philosophischen Diskursen der frühen Neuzeit.

Im Zentrum steht dabei das scheinbare Gegensatzpaar von Signatur und Phantastik. Diese beiden sowohl epistemischen als auch ästhetischen Kategorien werden meist je einer Seite der Epochenschwelle zugeschlagen: Die göttliche Einschreibung in die Dinge einer vollkommenen Natur der Seite des (Spät-)Mittelalters, die wirklichkeitserzeugende und -verändernde Phantastik der der Renaissance. Ziel des Bandes ist die Aufsprengung dieses starren Rasters. Besonders Zenck veranschaulicht in seinen zwei Beiträgen, dass sich um 1600 beide Konzepte vielfach brechen. Historisch-semantisch vorgehend zeigt er auf, dass der Begriff 'Signatur' in der frühen Neuzeit zumindest in sechs verschiedenen Bedeutungen gebraucht wurde. Dies setzt er in Beziehung zum neuen Konzept der "Fantasia" der Renaissance- und Barock-Poetiken, und kann ihr Verhältnis zueinander in der Folge in erheblich differenzierter Weise beschreiben. Ein wichtiges Ergebnis des Bandes ist somit, dass man Signatur und Phantastik nicht als zwei konkurrierende Konzepte verstehen darf, denn das eine Konzept ist immer schon in verschiedenen Formen vom anderen durchdrungen und vice versa. Einfache Epochenzuschreibungen gehen ebenso fehl, wie lineare ästhetische Sukzessionsbeschreibungen, die von der Ablösung des mittelalterlichen Mimesis-Ideals durch den 'phantastischen' Manierismus ausgehen.

Methodische Maxime des Sammelbandes ist es, aktualisierende und strikt historisch verfahrende Interpretationen nicht gegeneinander auszuspielen. Zunächst sollen zwar die zeitgenössischen Quellen zur Klärung ästhetischer Positionen herangezogen werden, aber auch moderne Theorien werden als legitimer Zugang zum Verstehen der Kunstwerke zugelassen. Arcimboldos Köpfe vor dem Hintergrund des Manierismus' oder des Surrealismus' zu analysieren sei - etwas überspitzt gesagt - gleichermaßen zulässig, denn "aufgesucht werde ein Spannungsverhältnis zwischen aktueller Theorie und historischer Semantik".

Wird hiermit nun jede historische Differenz ausgeblendet und die Methodik der Beliebigkeit ausgeliefert? Ganz und gar nicht. Der Gedanke, der die methodische Maxime anleitet und der unter dem etwas mystischen Titel "transepochale Affinität" firmiert, ist der folgende: Zwischen den Künsten und Wissenschaften des 16./17. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts bestehe eine gewisse Ähnlichkeitsbeziehung. Hierdurch erkläre sich auch das momentan verstärkte Interesse an der frühen Neuzeit, die eine Art Schwester im Geiste darstelle. Beiden Epochen eine ein "vergleichbarer Bewusstseinshorizont", der sich zum Beispiel in einer umfassenden Aisthesiologie äußere, nach der die Künste Wissen sinnlich und plastisch vermittelten. Ein Ideal, das auch von den Kunst- oder Kulturwissenschaften aufgenommen werde. Heute wie auch in der frühen Neuzeit versuchten sie, sich an die atmosphärische Aufladung und sinnliche Bedeutungsdichte der Künste heranzuschreiben. Und aufgrund dieser "transepochalen Affinität" sei der von modernen Theorien geleitete Blick auf die frühe Neuzeit ein legitimer und kein unangemessener.

Der Zeitenabstand zwischen (Post-)Moderne und früher Neuzeit wird also gut hegelianisch in einem höheren Prinzip versöhnt, das mal "transepochale Hermeneutik", "transepochale Vernunft" oder "transepochale Ästhetik" heißt. Große Worte, nur leider mangelt es sowohl an einer genauen theoretischen Durchdringung als auch an einer illustrativen Plausibilisierung. Nicht einmal der epistemische Ort der Transepochalität wird geklärt: Liegt sie auf der Objekt- oder Metaebene? Hat sie den Status einer Prämisse, eines heuristischen oder gar methodischen 'Werkzeuges'? Oder ist sie lediglich das Ziel einer Denkbewegung?

Abgesehen von diesen Unschärfen bietet der Gedanke der Transepochalität für das in allen historisch forschenden Disziplinen zentrale Problem des Eingehens auf vergangene Epochen eine bedenkenswerte neue Option. Statt sich entweder auf die Seite des Kontinuitäts- oder Alteritätsparadigmas schlagen zu müssen, wird hier eine spontane, geradezu unerklärliche Nähe zweier nicht weiter verbundener Zeiten postuliert, die sich ergibt, ohne gewollt oder gar erzwungen zu sein: "Gegenüber einem relativ eindimensionalem Begriff von Tradition, der nur im Kontinuitätsprinzip ein Kriterium für ein lebendiges Überlieferungsgeschehen veranschlagt, gibt es nicht nur folgenlose Entwicklungen und einmalige Kometen, sondern auch geschichtliche übergreifende Zusammenhänge, welche nicht von linearen Sukzessionsreihen abgesichert, sondern auf der Folie offener Sinnhorizonte durch Sprünge oder intermittierende Bewegungen miteinander verbunden sind."

Trotz der genannten Schwächen sind es gerade solche Gedanken, die die Lektüre dieses Sammelbandes auch für Leser, die nicht primär an der behandelten Zeit oder den behandelten Kunstwerken interessiert sind, zu einer anregenden und zum Weiterdenken einladenden macht.


Titelbild

Martin Zenck (Hg.): Signatur und Phantastik in den schönen Künsten und in den Kulturwissenschaften der frühen Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 2008.
316 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770543083

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