Schlüsselerlebnisse

Roumen M. Evert zeichnet das Schicksal einer jungen Bulgarin in Wien

Von Susan MahmodyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susan Mahmody

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen Tag im Leben einer jungen Immigrantin aus Bulgarien, die als Kellnerin in einem Wiener Gasthaus arbeitet, präsentiert uns Roumen M. Evert in seinem Roman "Die Immigrantin". Gleichzeitig nimmt er uns aber auch mit auf eine Reise in die Vergangenheit der Protagonistin, die uns in ihre Kindheit und Jugend in einer abgelegenen Bergarbeitersiedlung in den bulgarischen Rhodopen, in ihre von Gefühlskälte, Gewalt und Demütigung geprägte Ehe, in ihren mit den beiden Söhnen unternommenen Ausbruchsversuch in die Großstadt, sowie in ihre Flucht aus der Heimat nach dem Sturz des Kommunismus führt. Letztendlich landet Lena Iwanowna in einem Wiener Gasthaus, in dem sie den Gästen Speis und Trank serviert, zugleich aber auch immer ein offenes Ohr für deren Probleme und Sorgen hat. Derer hat sie auch selbst zur Genüge, lebt sie doch von ihren Söhnen getrennt in der Fremde, in ständiger Angst vor der Abschiebung, in einer Spirale aus Einsamkeit, Trostlosigkeit und Existenzängsten, der sie nur durch eine Zweckehe mit einem Österreicher entkommen zu können scheint. So schwankt Lena zwischen Ehrgefühl und der Sehnsucht nach ihren Söhnen, zwischen endgültiger Aufgabe und neuer Hoffnung.

Evert zeichnet das Bild einer zutiefst verletzten und verunsicherten Frau, die in all ihrer Not aber ungeheure Kraft und Lebensmut besitzt. In den vielen Rückblenden, in denen Schlüsselerlebnisse ihres Lebens enthüllt werden, eröffnet sich das Schicksal dieser jungen Frau, die Glück und Frieden nur in den ersten achtzehn Jahren ihres Lebens kannte. Dieses Schicksal schildert der Autor offen und schonungslos, in all seiner Tragik und Härte. Dennoch empfindet man als Leser kein Mitleid mit der Heldin, sondern vielmehr Bewunderung, Anerkennung und Respekt für ihre Willenskraft und ihre Stärke. Wir sehen Lenas Geschichte durch ihre eigenen Augen, teilen ihre Gedanken, fühlen ihren Schmerz, leben und erleben mit ihr. Die Reise durch Lenas Leben ist traurig, spannend, aufregend, aber teilweise auch erstaunlich komisch. So schildert der Autor die vielen Verehrer Lenas, die regelmäßig ihr Gasthaus besuchen und sofort eine Zweckehe mit der jungen Frau eingehen würden, auf ironische Art und schafft somit Komik in der Tragik.

Der rasche Wechsel zwischen den Zeiten und den Schauplätzen - wir bewegen uns zeitlich in einer Periode vom Anfang der 1960er- bis Mitte der 1990er-Jahre und räumlich in der bulgarischen Provinz und Großstadt, sowie in Wien - entwirft eine dynamische Geschichte, die durch epische Zwischenstücke auch die Umgebung, in der sich Lena bewegt, detailliert wiedergibt. Lenas Lebensgeschichte wird in nur 24 Stunden erzählt - 24 Stunden, in denen sie nicht nur ihr Leben Revue passieren lässt, sondern auch die Weichen für ihre Zukunft stellt. Bezeichnenderweise begleiten wir Lena am letzten Tag des Jahres, Silvester. Dem Tag, an dem das alte Jahr abgeschlossen wird und das neue mit all seinen Möglichkeiten beginnt. Für Lena soll es ein positiver Start ins neue Jahr werden, fasst sie doch im allerletzten Augenblick einen folgenschweren Entschluss und erlangt so die Chance auf ein besseres Leben.


Titelbild

Roumen M. Evert: Die Immigrantin. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2009.
295 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717333

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