Was schätzen Sie an Jürgen Habermas am meisten?
Antworten auf eine Umfrage
Von Thomas Anz
Wir haben einige bedeutende Wissenschaftler und Intellektuelle der Bundesrepublik gebeten, uns im Umfang von zwei bis zehn Zeilen die Frage zu beantworten, was sie an Jürgen Habermas am meisten schätzen. Anlass ist sein 80. Geburtstag am 18. Juni 2009.
Der Oikosdespot
Mein Lieblingsbegriff im Werk von Jürgen Habermas ist der des Oikosdespoten. Es fällt in der Publikation über den Strukturwandel der Öffentlichkeit und bezeichnet den Bürger in jenem Aggregatzustand, der für ihn kennzeichnend ist, bevor er sich auf den Markt begibt und dort „im Streit der Gleichen miteinander“ die Dinge zur Sprache bringt, die das Gemeinwesen beschäftigen, und sich in diesem Wettstreit als Bester zu bewähren versucht. Als Oikosdespot, so muss man sich das wohl vorstellen, handelt der Bürger noch nicht kommunikativ, sondern strategisch, wie es dann die späteren Begriffe auf den Punkt bringen. Dieses strategische Handeln wird als das Handeln des Oikosdespoten hier jedoch auch empirisch dingfest gemacht, wie das später nur noch selten der Fall ist. Der Oikosdespot spricht nicht unbedingt, zumindest argumentiert er nicht. Er begibt sich auch nicht in einen Wettstreit unter Gleichen und schon gar nicht um Fragen der Ehre. Er herrscht über sein Haus und muss dazu zu jenen Mitteln einer „friedlichen Ausübung von Verfügungsgewalt“ (Max Weber) greifen, wie sie von Xenophon bis Weber als Kernpunkte eines guten Wirtschaftens beschrieben werden. Damit jedoch hat Habermas eines der wichtigsten Geheimnisse der bürgerlichen Gesellschaft ausgesprochen. Die öffentliche Vernunft wird von Sprechern erstritten, die diese öffentliche Vernunft dort, wo sie herkommen, nicht gelten lassen. Im Haus handelt man nach anderen Regeln. Das ist die dunkle Seite jener Vernunft, für die Habermas streitet und die er hier ein für alle Mal zu Protokoll gebracht hat. In Frage steht, ob es diese politische Vernunft gäbe, würden ihr vom ökonomischen Kalkül nicht immer wieder die Einsätze diktiert.
Unter dem Titel „Menschenwürde und Moral“ erschien am 13. Mai 2009 eine kurze Notiz in der Süddeutschen Zeitung. Es genügt die Lektüre von ein, zwei Sätzen, um den Autor zu identifizieren: „Menschenwürde ist ein moralisch definierter Rechtsbegriff. Er hebt aus der Moral der gleichen Achtung für jeden genau den Ausschnitt heraus, der in der Gestalt von Menschenrechten ausbuchstabiert werden kann und in der Form von Grundrechten positive Geltung erlangen soll. In der Idee der Menschenwürde sind die besonderen, statusgebundenen Ehrbegriffe der frühen Neuzeit egalitär verallgemeinert worden. Sie gebietet die Art von gleichem Respekt und gegenseitiger Anerkennung, die Bürger eines demokratisch verfassten Gemeinwesens einander als unvertretbaren Individuen schulden.“ Habermas: Exakt und bündig formuliert, den Gedanken auf das eine Thema gerichtet, nie sich verlierend in Besinnungsprosa, sondern mit technischer Nüchternheit auf kürzestem Platz ein Bekenntnis zum Zentrum aller Bemühungen – glänzend!
Seit meinen Zeiten als Assistent habe ich an Jürgen Habermas immer am meisten bewundert, wie er es vermocht hat, seine systematischen Interessen am Ausbau einer Kommunikationstheorie der öffentlichen Vernunft gleichwohl mit einer hermeneutischen Offenheit für alle neuen Entwicklungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften zu verbinden. Kaum hatte er mit einem energischen Schritt scheinbar wieder einen Baustein im anwachsenden Gebäude seiner systematischen Theorie fixiert, da trieb ihn seine Neugier und Responsivität erneut zur Auseinandersetzung mit jüngsten Errungenschaften der theoretischen Entwicklung, so dass das soeben Errichtete von Neuem ins Schwanken geriet. Diese gedankliche Beweglichkeit, das Hin und Her zwischen systematischen Bestrebungen und hermeneutischen Bemühungen, ist nach meinem Dafürhalten das beste Schnittmuster aller wissenschaftlichen Produktivität; aber über die Fähigkeit, beide Seiten stets in einer gleichgewichtigen Spannung zu halten, verfügen wahrscheinlich nur die wenigsten von uns.
Jürgen Habermas – unsere persönliche, wenn auch nicht sehr enge Bekanntschaft ist rund 35 Jahre alt – besetzt mit analytischem Scharfsinn, Originalität und einer großen Problemstrukturierungskraft die wichtigen Themen aktueller Politik und Philosophie. Einige seiner Schriften und Ideen zähle ich zum Repertoir für die Grundorientierung eines Philosophiestudiums. Als Anwalt von Rationalität und Aufklärung ist er das nimmermüde Gewissen der Nation und spielt als Mahner für Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie eine herausragende Rolle.
So sehr er engagierter Streiter sein kann, im direkten Umgang zeigt er immer vorbildliche Aufmerksamkeit, Offenheit und Wärme gegenüber anderen Menschen. Um es ganz einfach zu sagen:ein Großer unserer Zeit, der nicht nur einen Kopf, sondern auch ein Herz hat.
Er ist einer der wenigen, die Bürgerkriege im Geiste zu einem Frieden bringen können. Verblüffend, dass er in China oder in den USA die gleiche Geltung besitzt wie in Europa – und das schon seit vielen Jahren. Im Vergleich zum katilinarischen Luther ziehe ich Melanchthon und Erasmus vor.
Jürgen Habermas hat mit seiner beharrlichen Gegenwartsdiagnose die Zeit in Gedanken gefasst und damit den Weg gebahnt für eine Reihe öffentlicher Intellektueller, die er stets zu produktivem Widerspruch gereizt hat. Für diese geistige Avantgarde kann man nicht dankbar genug sein.
Es steht mir nicht zu, Jürgen Habermas zu loben. Ich bin kein Philosoph und kein Soziologe. Aber schon vor mehr als vier Jahrzehnten fiel mir ein ungemein anregender Aufsatz von ihm auf. Ich habe daraus in meinem ersten Buch, das in der Bundesrepublik erschien, „Deutsche Literatur in West und Ost“, dankbar zitiert. Der Aufsatz mit dem Titel „Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen“ beschrieb die Anziehungskraft, die der kritische Humanismus der deutschen Philosopie um 1800 auf jüdische Intellektuelle ausübte. – Zwanzig Jahre später, 1986, las ich dann einen Zeitungsartikel von ihm, der mich nicht nur anregte, sondern aufregte. Es war der Beitrag von Habermas zum „Historikerstreit“, mit dem er sich dem von einigen Historikern betriebenen Versuch entschieden widersetzte, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu relativieren. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar. Hier zeigte sich erneut, welche Rolle ihm in der bundesdeutschen Öffentlichkeit zusteht: die einer zentralen moralischen und intellektuellen Instanz.