Alles falsch, was falsch sein kann

Meine tägliche Synchronisation mit der Welt

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Als Gymnasiast beschäftigte mich sehr die Kurzgeschichte „The Outstation“ von W. Somerset Maugham, die wir im Englischunterricht behandelten. Sie war Teil einer Sammlung von Geschichten, zusammengestellt unter dem Titel „The Gentleman Ideal. Selections from Famous English Writers“. Die Erzählung Maughams handelt von Mister Warburton, einem britischen Kolonialoffizier, der seit Jahren allein im Dschungel von Borneo seinen Pflichten für das Empire nachgeht. Einmal monatlich bekommt er die gesammelten Ausgaben der „Times“ und des „Observer“ geschickt, von London per Schiff. Jeden Morgen liegt die tägliche Zeitung auf dem Frühstückstisch, jeder Morgen ist ein neues Leseerlebnis, das ihn mit der Welt „da draußen“ verbindet. Es war „his greatest pleasure in life“, beim morgendlichen Tee die Zeitung zu lesen, – auch wenn es die Ausgabe von sechs Wochen zuvor war. Nie würde er die Zeitung vom nachfolgenden Tag lesen, es konnte sich noch so Aufregendes abzeichnen.

An Mister Warburton muss ich auch an diesem ganz normalen Donnerstag denken, als ich die Zeitung in die Wohnung hole. Aber, was heißt schon „normal“? Kann ein Donnerstag normal sein, an dem „der in den Seminaren der Welt meistgelesene Repräsentant der Generation des Wissenschaftswunders“ seinen 80. Geburtstag medial zelebriert bekommt?

Es ist Donnerstag, der 18. Juni 2009. Die Zeitung liegt auf dem Frühstückstisch. Die Abstimmung mit der Welt, so wie ich sie gestern vor dem Einschlafen verließ, kann anheben. Ich trenne die „Bücher“, jeden Tag entscheide ich aufs Neue, wonach ich zuerst greife: das Erste Buch, „Wirtschaft“, „Finanzmarkt“, „Feuilleton“. Und weil Donnerstag ist, folgt heute das „Reiseblatt“. Jetzt wissen Sie, was ich lese, „diese Zeitung“, die mit den klugen Köpfen „dahinter“ warb.

Wegen des schon so lange angekündigten Geburtstags des Starnberger Sozialphilosophen greife ich heute doch zuerst zum Feuilleton. Es schildert „in betont persönlicher Weise die Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten des Lebens und versucht, ihnen eine menschlich bewegende, erbauende Seite abzugewinnen“, wie die Medienwissenschaflerin Claudia Mast so artig dieses Genre zu beschreiben weiß.

Die Wette mit mir selbst habe ich also gewonnen: Jürgen Kaube durfte den Geburtstagsartikel für Jürgen Habermas schreiben. Na, dann schauen wir doch mal, was ihm so einfiel, ihm, der sich seit einigen Jahren in griesgrämiger Miesmacherei und Nörgelei gefällt, dessen schwäbelnden Verdruss über den akademisch-wissenschaftlichen Betrieb, dem er vielleicht ganz gerne selbst angehören würde, der Leser in (fast) jedem Beitrag ertragen muss. Manchmal erheiternd, dann aber auch wieder nervend. Aber, nicht lesen geht ja auch nicht.

Heute wartet er mit einer Entdeckung auf: Nicht nur ein Wirtschaftswunder hat es im Nachkriegsdeutschland gegeben, auch ein „Wissenschaftswunder“ hat sich ereignet. Es bestand darin, dass eine ganze Generation, die zwischen 1923 und 1929 geborenen Wissenschaftler, eine kollektive Leistung erbracht hat, von denen einige Namen von ihm auf den Ehrenschild gehoben werden: Blumenberg, Borst, Dahlhaus, Dahrendorf, Hennis, Henrich, Imdahl, Jauß, Koselleck, Lübbe, Luhmann, Szondi. Alle diese Vornamenlosen hatten, so werden wir informiert, „denkbar verschiedene Lebensgeschichten“, so dass der Großkritiker glaubt, anmerken zu müssen, dass Bezeichnungen wie „Flakhelfer“-Generation oder „skeptische Generation“ an deren Komplexität „vorbeigreifen“. Eigenartig, einerseits wird eine ganze Generation zum „Wunder“ stilisiert und damit die individuellen Leistungen eingeebnet, andererseits die bewährte und empirisch gesättigte Kohortenmarkierung kritisiert. Nun ja, der selbst gestrickte Bielefelder Soziologe wird es schon wissen, besser allemal.

Auch wenn er sich selbst so ganz „vom Appell zur Vernunft und zur Moral und zum richtigen Begründen als Königsweg des sozialen Umgangs nicht erreicht fühlt“, so fordert der Feuilletonist doch dazu auf, das „Aufklärungswerk“ von Habermas und „den Willen, den es dokumentiert“ zu „bewundern“. Das Wissenschaftswunder soll bewundert werden.

Ein wenig ratlos schweift der Blick auf den großen Kasten unter der Überschrift „Habermas, der Feuilletonist“, in dem Textauszüge aus den Jahren 1953, 1954 und 1957 versammelt sind. Wollte hier der eine Feuilletonist sich an den anderen Feuilletonisten anschmiegen?

Die Todesanzeigen sind heute nicht sonderlich alarmierend, die Jahrgänge 1913, 1919, 1938 und 1939 lösen keine größeren Nachdenklichkeiten am Frühstückstisch aus, die Einschläge sind immer noch weit genug weg. Der eigene Jahrgang (1944) sticht da ja sonst immer häufiger ins Auge.

Ein paar Seiten später steigt mein Unmut. Der junge Schweizer Historiker und Habilitand Caspar Hirschi darf sein Mütchen am neuen Buch des Bamberger Kollegen Richard Münch über die Folgen der Tätigkeit von Beraterfirmen für das deutsche Wissenschaftssystem kühlen. Wieder darf sich einer wundreiben an der „alten Ordinarienoligarchie mit ihren fein separierten Mitarbeiterstäben“, an deren „bequemen Defätismus“ und am „geschwollenen Unsinn“ ihrer Texte. Wenn er Richard Münch persönlich kennen würde, wüsste er, dass der das genaue Gegenteil dessen ist, was er sich hier als Vogelscheuche seines Ressentiments zurechtgebastelt hat, vom idyllischen Cambridge aus, wartend darauf, dass auch er endlich in die Riege der „Ordinarienoligarchie“ einrücken darf.

Das „Blättchen“ ein wenig enttäuscht und seufzend aus der Hand gelegt, versöhnt jedoch durch die überaus einladende Rezension des neuen Films von Kevin Macdonald „State of Play“ durch Michael Althen und die Persiflage von Julia Spinola auf die aktuellen Pläne, den Bayreuther Hügel entweder zur Liegewiese oder zum Aufmarschplatz zu planieren, greife ich zum Ersten Buch, auf dessen erster Seite mich der Geburtstagsjubilar Habermas ebenfalls nicht anschaut: Die Bildredaktion scheute den direkten Blick, sowohl auf Seite 1 wie auf Seite 31.

Warum finden wir eigentlich den „Herausforderer“ und Oppositionsführer Mir Hossein Mussawi so sympathisch und den Präsidenten Ahmadineschad so schrecklich? Ich war noch nie in Teheran, ich war noch nie im Iran, ich lese nur, dass die Farbe Mussawis und seiner Anhängerscharen Grün ist, die Farbe des Islam, und ich verstehe, dass auch er den „Wächterrat“ als oberste Instanz und den „Obersten Geistlichen Führer“, den Ajatolla Ali Chamenei, nicht in Frage stellt. Ratlos lese ich die Berichte, betrachte das Foto eines verletzten, blutenden Mannes, bei dem nicht klar ist, was, wann und warum ihm zugestoßen ist. Ich sinniere, dass es soziologisch gesehen keinen entscheidenden Unterschied macht, ob es sechs weltliche und sechs Sakraljuristen sind, die als „Kenner des islamischen Rechts“, den „Wächterrat“ bilden, oder die 16 Richter der zwei Senate unseres Bundesverfassungsgerichts, die ja wohl „Kenner des deutschen Rechts“ sind, und über deren nicht unproblematische Bestellungspraxis seit Jahrzehnten folgenlos diskutiert wird.

Nein, diesmal bereitet auch das Erste Buch keine sonderliche Freude. Blanker Ärger steigt hoch, als ich lese, dass die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), sich zur Äußerung verstiegen hat, die „glatte Ablehnung“ der Internationalisierung des deutschen Wissenschaftssystems durch die Studierenden wirke „gestrig“: Da ist einfach alles falsch, was nur falsch sein kann. Was wissen die Mitglieder der Politischen Klasse noch von den sozialen Realitäten und den Menschen, über die sie derartigen Unsinn äußern, wenn sie in den gepanzerten Dienstwagen und teppichbelegten Dienstzimmern gelandet sind? Aber verspotten können sie ihre Untertanen und ihnen böswillig Absichten unterstellen, derer diese sich nicht erwehren können. Wenn die Bologna-„Reformen“ bisher eines verhindert haben, dann eben genau die Möglichkeit des Wechsels von einer deutschen Universität an die Universität Bologna, beispielsweise. Nicht einmal innerdeutsche Mobilität funktioniert mehr, weil die Module aus Marburg weder in Kassel noch in Gießen umstandslos anerkannt werden. Dagegen friedlich zu protestieren ist also „gestrig“, was wäre denn „heutig“? Den Server des Bundesministeriums für Bildung und Forschung endgültig lahm legen?

Die etwas schnellere Lektüre der „Wirtschaft“ lässt den Adrenalinspiegel nicht sonderlich sinken: Die beschlossenen gesetzlichen Änderungen in Sachen Kurzarbeit sind einfach skandalös, die erteilte „Lizenz zum Ausplündern der Sozialversicherung durch Großunternehmen“ (Heinrich Kolb, FDP) wurde im Eilverfahren erteilt, der entscheidende Satz stand am Anfang: „Um Massenentlassungen in den nächsten Monaten zu vermeiden, will die Koalition die Arbeitgeber beim Kurzarbeitergeld noch stärker entlasten als bisher geplant.“ Die „nächsten Monate“ werden ruckartig am 27. September enden!

Die nicht erklärte „Rentenformel“ mit ihrer „Lohnkomponente“, dem „Riesterfaktor“ und dem „Nachhaltigkeitsfaktor“ auf der nächsten Seite verstärkt das Kopfschütteln. Dass daran „gebastelt“ wird, „Dämpfungsfaktoren“ geschaffen werden, ausgesetzt und nachgeholt werden, das weiß der Zeitungsleser mittlerweile, aber wie sie berechnet wird, das erklärt auch „diese Zeitung“ nicht.

Genauso wenig erklärt sie, wofür Peter Fleischer, bis vor kurzem Vorstandsmitglied der staatseigenen Förderbank KfW, ein Monatsgehalt von 27. 438 Euro plus Jahrestantiemen von 140.930 Euro bis zum Ende seiner Vertragslaufzeit am 30. Juni 2013 bekommen soll. Aber wahrscheinlich ist das auch nicht wirklich zu erklären, dann ist es wenigstens gut, dass wir wissen, dass Herr Fleischer jetzt auf Fortzahlung klagt. Überhaupt, der ganze Rest der Berichterstattung aus den Unternehmen Porsche, Saab, Dresdner Bank, Opel, Arcandor, Boeing, Deutsche Bank auf den anschließenden Seiten lässt den Leser zwischen Anfällen der Verzweiflung („60 Prozent der ostdeutschen Frauen würden gerne Vollzeit arbeiten.“), des ironischen Aufprustens („Jens Peter Neumann [Dresdner Kleinwort] pocht auf die Auszahlung der restlichen 1,5 Millionen Euro aus seinem mit insgesamt 4,5 Millionen Euro dotierten Aufhebungsvertrag“) und der puren Lachlust (Dieter Bohlen im Ferrari mit blonder Nackenteppich-Frisur).

Der „Finanzmarkt“ hebt die Laune auch nicht sonderlich, nach der Bleiwüste mit den winzigen Zahlen, die sicherlich für viele Leser das ersehnte tägliche Augenfutter sind, der kleine Sport, – es ist ja nicht Montag.

Der Bericht über die Fußball-WM in Südafrika mit seiner empörten Tonlage über die „hübschen Anwesen hinter hohen, von Elektrozäunen geschützten Mauern, drapiert mit Schildern ‚armed response‘“, macht deutlich, dass der Reporter noch nie im kalifornischen Berkeley gewesen war. An genau solchen Schildern ging ich gerade fünf Monate entlang. Auch dort würde ich dazu raten, „keine abendlichen Spaziergänge im Mondlicht“ zu unternehmen, auch dort könnte es ausgehen wie in Bloemfontein, Rustenburg und Polokwane.

Weil derzeit keine Urlaube angesagt sind und die Sehnsucht nicht unnötig gereizt werden darf, muss ein Blättern und Bilderanschauen beim „Reiseblatt“ genügen. Entsetzt erkenne ich, dass ich bislang ein Banause in Sachen italienischem Schinken war. Betrübt lege ich die letzte Scheibe Parmaschinken auf mein Brot, wusste ich doch nicht, dass ich damit zu den „Proleten“ zähle und dass die „wahren Genießer“ in San Daniele ihr Schweineglück finden.

Die heutige Zeitung ist gelesen, die morgige wird schon erstellt, während ich die Tasse in die Spülmaschine stelle. In die heutige Ausgabe werden zeitgleich auf dem Markt Salatköpfe eingewickelt, viele Exemplare bleiben in Nahverkehrsmitteln liegen, die Lufthansa fährt bald Tonnen in die Altpapierentsorgung der Flughäfen. Die Herren Althen, Bahners, Deckers, Fischer, Geyer, Hanfeld, Hintermeier, Ingendaay, Jäger, Kaube, Kohler, Pergande, Platthaus, Schirrmacher, Seidl, Schümer, die Damen Adorján, Schmoll, Spinola, von Lovenberg, Lueken, Thomas – und alle anderen, die dem aufmerksamen Leser über die Jahre vertraut geworden sind, sind schon wieder unterwegs und schreiben. Für mich, um mich morgen mit Nachrichten zu versorgen, mich zum Schmunzeln zu bringen, zum Ärgern, zum Lernen.

Warum habe ich Sie auf diesem einen Lesemorgen mitgenommen? Warum erzähle ich Ihnen, wie viel mir tägliches Zeitungslesen bedeutet? Warum verfasse ich diese Zeilen, wenn ich doch weiß, dass alles das, wovon ich bis hierher geschrieben habe, am Tag, an dem Sie das lesen, bereits Geschichte ist? An manches werden Sie sich gar nicht mehr erinnern, das meiste wird sich weiterentwickelt haben, andere Namen werden genannt werden, von Menschen, die Geburtstage haben, die gestorben sind, andere Ereignisse werden die Schlagzeilen beherrschen. Zwar sind Fernsehnachrichten noch vergänglicher, aber auch die Tageszeitung vergilbt eine Woche nach Erscheinen.

Ich schreibe diese Zeilen, weil ich Ihnen, auf Einladung der Redaktion, ab nun und für unbestimmte Zeit, jeden Monat davon berichten darf, was mir bei dieser täglichen Abstimmung mit der Welt in den Sinn gekommen ist. Nicht immer so lang, keine Sorge, aber immer wird es darum gehen, dass ich etwas lese, erfahre, höre, sehe, erlebe, was mich zu beschäftigen beginnt. Oft genug ärgert, manchmal betrübt, häufig freut. Und daran werde ich Sie teilhaben lassen, wenn Sie wollen. Und wenn Sie sich darüber ärgern, betrüben oder freuen, dann schreiben Sie mir, bitte. Die Redaktion kann nichts für meine Meinung zum Tage, sie bietet ihr jedoch die Plattform, sie lässt mich zum Blogger werden. Dafür bin ich dankbar.