Er ward unser Schiller

„Geteilte Freude“: Andreas B. Kilcher über die Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im fortschrittsoptimistischen 19. Jahrhundert, von der Aufklärung bis hin zur zionistischen Erneuerungsbewegung um 1900, wurde Schiller zur Leitfigur für deutsche und osteuropäische Juden. Wie groß sein Einfluss vor 1933 auf die jüdische Moderne war, lässt sich an der Vielzahl der hebräischen, jüdischen und jiddischen Übersetzungen seiner Texte ermessen.

Seine Ode „An die Freude“ war besonders beliebt, nicht zuletzt wegen ihrer hymnischen Beschwörung kosmopolitischer Menschheitsverbrüderung und universaler Lebensfreude. Schon früh wurde sie mehrmals von Vertretern der neuhebräischen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa ins Hebräische übertragen, von Autoren, die zunächst um 1800 im Kontext der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und später um 1900 im Kontext der nationaljüdischen Renaissance standen.

In der jiddischen Literatur gehört dagegen „Das Lied von der Glocke“ zu den meistübersetzten und auch parodierten Klassikern. Bei all diesen Übersetzungen handelt es sich durchweg um die „Umsetzung einer denkbar optimistischen Öffnung der jüdischen auf eine moderne, humanistische, europäische Kultur hin, als produktive Aneignung und Realisierung der Aufklärung in der jüdischen Moderne“, schreibt der an der ETH Zürich lehrende Literaturwissenschaftler Andreas B. Kilcher in seinem Buch „Geteilte Freude“, dem ein, inzwischen weiter ausgearbeiteter Vortrag über die jüdische Schiller-Rezeption im 19. Jahrhundert zugrunde liegt. Tatsächlich glaubten einst viele Juden, dass Bildung, Freiheit und Menschheitsverbrüderung, die Schiller mit Pathos beschworen hat, für alle Menschen umsetzbar sei, hebt Kilcher hervor.

Im monografischen Teil seines Buches analysiert er die transkulturelle jüdische Umformung (der Autor spricht von „Anamorphose“) des Weimarer Klassikers Schiller in ihren historischen, kulturellen und intellektuellen Prämissen, in ihrer interpretativen Arbeit sowie in ihren kulturpolitischen Implikationen. Dabei geht es ihm, nach eigenem Bekunden, weniger um eine philologisch-historische Darstellung der jüdischen Schiller-Rezeption als vielmehr um eine diskursanalytische Untersuchung der Bedeutung, die Schiller und seinen Texten bei ihren Übersetzungen zugesprochen wird. Kilchers Untersuchungsgegenstand umfasst sowohl publizistisch-journalistische und literarische Texte als auch Kontexte, die wiederum von der jüdischen Aufklärung über das liberale Judentum des 19. Jahrhunderts hin zur frühzionistischen Hibat-Zion-Bewegung reichen.

Doch wie hat Schiller selbst Juden wahrgenommen? Anders als Lessing hat er sie weitgehend ignoriert. Wenn er von ihnen sprach, geschah dies meist in den damals üblichen Stereotypen. In seinem Leben haben Juden, wie schon der jüdische Goetheforscher und Literaturwissenschaftler Ludwig Geiger festgestellt hat, keine große Rolle gespielt. Auch in seinen Dichtungen habe er ihnen keine wichtige Stelle eingeräumt, er habe weder Spottverse gegen sie geschrieben noch sie in Dramen und Romanen ausführlich behandelt, mit Ausnahme des Räubers Spiegelberg in den „Räubern“ (1781) und seiner Jenaer Vorlesungen über „Die Sendung Mosis“ (1790). Wenn Schiller Juden direkt ansprach, war er, laut Kilcher, weit weg von jenem Humanismus gewesen, mit dem ihn die jüdischen Leser des 19. Jahrhunderts gern identifiziert haben. Indes sei dem Dichter der Ideale die Realität „förmlich erlassen“ worden. Es habe dabei jedoch nicht nur ein erhebliches Gefälle zwischen dem idealen und dem realen Schiller bestanden. Bemerkenswert sei auch, dass Juden ausgerechnet den Weimarer Klassiker der Götter Griechenlands zu ihrem Lieblingsdichter erwählten und in seinen Idealen von Freiheit und Brüderlichkeit, Bildung und Menschenwürde ein Programm sahen, das das Judentum nicht mehr ausgrenzte, sondern zu integrieren versprach.

Nicht von ungefähr schrieb 1905 die „Monatsschrift für modernes Judentum“ daher: „Er ward unser Schiller“. Das galt sowohl für liberale als auch für orthodoxe Juden. So wurde Schiller, seine Kollegen Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe übertreffend, zum Ansporn für den jüdischen Aufbruch in die europäische Moderne. „Wo Lessing aufhörte“, schrieb der liberale Rabbiner Meyer Kayserling 1859, „fing Schiller an; was Lessing für die gebildeten Kreise der Juden im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts war, das wurde Schiller für den großen Haufen; er wurde Volksschriftsteller und Volksdichter“.

Kilcher weist darauf hin, dass man bei der jüdischen Schiller-Rezeption genau unterscheiden müsse zwischen dem deutschsprachigen Mitteleuropa und dem jiddischsprachigen Osteuropa. Zunächst habe Schiller bei den in Deutschland lebenden Juden den Ruf als literarischer Anwalt von humanistischer Philosophie, republikanischer Rechte und kosmopolitischer Moral erlangt. Nach Kayserling war er der „Apostel deutscher Freiheit und deutscher Bildung“.

In einem weiteren Kapitel stellt der Literaturwissenschaftler Schillers Einfluss im Ghetto am Beispiel der jiddischen Übersetzungen der „Glocke“ im 19. Jahrhundert heraus. Doch sei er hier nicht einfach gelesen, sondern auch ins Jiddische übersetzt und dabei nicht selten parodiert worden. So gibt es nicht weniger als sieben Versionen von der „Glocke“.

Hierzu eine nette Anekdote: Ein Bachur (ein Jüngling) wird von einem Kollegen erwischt, als er gerade ein deutsches Buch liest. Der Späher hört ihm aufmerksam zu, wie er liest: „Zu Dionys, dem Tyrannen – dem Rosche – schlich – er ist geloffen – […] den Dolche – den Chalef – im Gewande – in der Kapole“. Nun stürzt der Späher auf den harmlosen Leser los: „Was machst de denn da?“ Antwort: „Ich verteusch mir Schiller“.

Während die jiddischen Schiller-Übersetzungen vielfach eine parodistische Tendenz verfolgen, betonen die hebräischen Schiller-Übersetzungen das Pathos der Freiheit und der Brüderlichkeit, indem sie es in die Diktion der biblischen Sprache transportieren.

Aber es wurden nicht nur Texte von Schiller ins Hebräische übersetzt, vielfach verfassten bereits um 1900 jüdische Literaturwissenschaftler eigene Biografien zu ihren Übersetzungen und betonten, dass kein deutscher Dichter, geschweige denn ein ausländischer so oft ins Hebräische übersetzt worden sei wie gerade Friedrich Schiller.

Kilcher geht dabei nicht nur ausführlich auf hebräische Übersetzungen ein, wie die von Lippmann Moses Büschenthal, Meir Halewi Letteris, Baruch Schönfeld und Moritz Piorkowsky, er nimmt auch programmatische und literaturkritische Texte der liberalen jüdischen Presse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter die Lupe, die die jüdische Schiller-Rezeption darstellen, begründen und interpretieren, wie etwa in pathetischen Reden und Feuilletons zu den Schillerfeiern in den liberalen deutsch-jüdischen Zeitschriften zwischen 1859 und 1905 und in der jüdischen Erzählliteratur. Als Beispiel führt Kilcher die Schiller-Erzählungen des durch seinen Text „Schiller in Barnow“ bekannt gewordenen galizischen Schriftstellers Karl Emil Franzos an, dessen Erzählungen die besondere Wichtigkeit von Schillers Lyrik für die jüdische Moderne deutlich machen.

Aus der Sicht der rabbinischen Lehrer allerdings waren Schillers Werke, wie alle moderne und nichtjüdische Literatur verboten. Wo jüdische Tradition den Alltag beherrschte, konnte Schiller nur im Verborgenen gehandelt und gelesen werden. In diesem Fall wurden Schillerbände geradezu zu einem verborgenen Schatz, der mit besonderer Sorge gehütet und mit intensiv gelesen wurde.

Neben der religiösen und politischen Freiheit suchten jüdische Schiller-Leser in seinen Texten auch eine emotionale Freiheit. Im Aufbruch der Haskala entfalteten diese ihr nachgerade prophetisches und messianisches Potential. Die jüdische Renaissance nach 1900 wollte in erster Linie der europäischen und deutschen eine jiddische oder hebräische Kultur entgegenstellen. In dieser Zeit erschienen zwei weitere gewichtige Übersetzungen von Schillers Ode „An die Freude“, in denen die Ode weniger biblisch gelesen wurde, sondern eher säkularer, politischer und moderner. Sie avancierte sogar zu einem Volkslied und Schiller selbst zum jüdischen „Volksschriftsteller und Volksdichter“, wie Kayserling schon um 1859 beobachtet hatte.

Nachdem jedoch die Nazis an die Macht gekommen waren und mit ihrer Kulturpolitik alles getan hatten, um Schiller als Kampfgenossen Hitlers und sogar als Antisemiten für sich zu vereinnahmen, und außerdem Juden verboten hatten, sich weiter dem Dichter zu widmen, war die Geschichte der jüdischen Schiller-Rezeption und Schiller-Apologie sowohl in Deutschland als auch in Osteuropa zu Ende. Schiller konnte und sollte fortan nicht mehr geteilt werden.

Der editorische Teil von Kilchers Publikation enthält die im ersten Teil erwähnten hebräischen und jiddischen Übersetzungen im Wortlaut: die Edition der originalen Textfassungen nach den Erstdrucken und deren Rückübersetzungen ins Deutsche.

Kilcher ist zweifellos ein versierter Kenner der deutsch-jüdischen Literatur, insbesondere der jüdischen Schiller-Rezeption in all ihren Varianten. Leider erschweren sein etwas eintöniger Stil und seine nicht immer einfallsreiche Ausdrucksweise mitunter unnötig die Lektüre.

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Andreas B. Kilcher: Geteilte Freude. Schiller-Rezeption in der jüdischen Moderne.
Lyrik Kabinett, München 2007.
220 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776018

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