Grenzgebiete

Ein Tagungsband der internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft

Von Ines SchubertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Schubert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Scheinbar ganz im Zeichen des Biografismus stand das vom 2. bis zum 4. Oktober 2003 in Straßburg abgehaltene Internationale Alfred-Döblin-Kolloquium „Der Grenzgänger Alfred Döblin – Biographie und Werk (1940-1957)“. Die am Ort des Döblin’schen Grenzübergangs zwischen Frankreich und Deutschland gehaltenen Vorträge wurden traditionsgemäß in der Reihe A des „Jahrbuchs für Internationale Germanistik“ publiziert und liegen seit 2006 vor.

In den zwölf von Christine Maillard und Monique Mombert herausgegebenen Aufsätzen werden einige der bedeutenden späten Erzähltexte Alfred Döblins sowie wichtige biografische Etappen des Schriftstellers und seines politischen Engagements im besiegten Deutschland nach 1945 behandelt. Die allumfassenden Modi des Grenzüberschreitens – Intertextualität, Interdisziplinarität und Interkulturalität – galten den Herausgeberinnen hierbei als das verbindende Moment zwischen den sowohl in ihrer theoretischen Disposition als auch hinsichtlich ihres Erkenntnisgewinns sehr unterschiedlichen Beiträge. Dementsprechend finden neben den im Bereich der Literaturwissenschaft angesiedelten romanpoetologischen und rezeptionsästhetischen Fragen auch mythos- und religionstheoretische Probleme sowie Fragestellungen der Gender- und der Postcolonial Studies ihren Platz und werden mit den biografischen, geografischen und geistigen Grenzgängen Döblins in Beziehung gesetzt.

Das literarische Grenzgängertum des Autors wird bereits in dem den Band eröffnenden Aufsatz zu Döblins romanpoetolgischen Konzeptionen thematisiert. Matthias Prangel gelingt es, die einzelnen Elemente der vielfältigen theoretischen Überlegungen Döblins und seine poetischen Bemühungen um den modernen epischen Roman zusammenzufügen. Döblin wird von Prangel als einer der neben Friedrich Nietzsche radikalsten Vertreter der Selbstkritik der Moderne präsentiert, dessen Forderungen im Angesicht des subjektivistischen Rationalismus der zivilisatorischen Moderne insbesondere der literarischen Wiederherstellung einer vieldimensionalen und komplexen Welt galten. Döblins grenzgängerische theoretische Reflexionen zeichneten sich durch „Eigenwilligkeit, Originalität und Widersprüchlichkeit“ aus und gelten bis in die jüngste Zeit als „Inbegriff des modernistischen Schreibens“.

Sehr materialreich und auch sehr originell, wie die Herausgeberinnen in der Einleitung des Sammelbandes ankündigen, erscheint die erste Gruppe von vier Studien, die sich mit der im Spätwerk Döblins zentralen „November 1918“-Trilogie und dem „Hamlet“-Roman auseinandersetzen. Der Versuch, einige der wichtigsten Erzähltexte Döblins der 1940er-Jahre durch innovative Zugänge in ein neues Licht zu rücken, gelingt im Falle Klaus Wielands sehr überzeugend. Seine Analyse der Männlichkeitsmodelle in „Bürger und Soldaten“ führt zu einem differenzierten Bild der in diesem Text pluralisierten männlichen Identitäten. Wieland weist nach, dass Döblin vor dem Hintergrund der Krise der Männlichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts traditionelle, patriarchalische Rollenmodelle problematisiert hat, und leistet somit einen Beitrag zur Präzisierung eines Gesichtspunktes der Döblin’schen Anthropologie.

Michel Hofmann und Catherine Gouriou widmen sich Döblins Auseinandersetzung mit dem Mythos – ein Gegenstand, der immer stärker von der Peripherie in den Mittelpunkt der Döblin-Forschung rückt. Zentral für beide dieser sehr erkenntnisreichen und vielfach anschlussfähigen Beiträge ist die Frage nach der literarischen Funktion des Mythos innerhalb des Döblin’schen Werkes. Im Anschluss eines Interpretationskonzeptes, das die Mythopoetik in der „Amazonas“-Trilogie als literarisches Modell hybrider Interkulturalität begreift, bewertet Hofmann das „Amazonas“-Epos als Versuch Döblins, der Krise der europäischen Politik und Zivilisation am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zu begegnen. Anhand dreier Erzähltexte der 1940er-Jahre konstatiert Gouriou eine christliche Umdeutung des Mythos. Diese entscheidende Weiterentwicklung der Mythosfunktion innerhalb der Döblin’schen Ästhetik wird von Gouriou in einen plausiblen Zusammenhang mit der im November 1941 vollzogenen Konversation des Schriftstellers zum Katholizismus gebracht.

An diese Thematik anknüpfend beschäftigen sich zwei weitere Aufsätze mit einigen in der bisherigen Forschung ebenfalls nur sehr begrenzt behandelten Texten und Aspekten der Döblin’schen Religiosität. Die oftmals diskutierte Frage nach Kontinuität oder Bruch in Döblins Einstellung zur Religion von den frühen naturphilosophischen Schriften bis zur Konversation ist für Christine Maillards Untersuchung des Religionsgespräches „Der unsterbliche Mensch“ daher weniger bedeutsam. Interessanter erscheint ihr die Einordnung Döblins in die interdisziplinäre Denktradition seiner Epoche und die Bewertung des heterodoxen Potentials seiner Positionen. Die Ansichten und Modelle anderer zeitgenössischer religionstheoretischer Grenzgänger, Carl Gustav Jung und Pierre Teilhard, gewinnbringend vergleichend, beurteilt Maillard Döblins theologischen Diskurs als einen schmalen Grenzbereich zwischen Orthodoxie und Heterodoxie.

In literaturwissenschaftlicher Absicht nähert sich Andreas Solbach der Erzählung „Die Pilgerin Aetheria“ und damit Döblins Poetik der Grenzüberschreitung. Denn die umfassende narratologische Analyse zeigt, dass es sich bei dieser Erzählung um einen „Fall der Grenzüberschreitung in Richtung einer Legende“ handelt. Weiterhin legt Solbach nahe, dass dieser Text ein „verdecktes poetologisches Manifest“ darstelle, dessen ganz spezifische Erzählerfigur Aufgaben der Leserlenkung im Sinne Döblins, nämlich zum Glauben, einnähme. Einer weniger stark biografisch orientierten Literaturbetrachtung erscheint dieser Befund trotz seiner luziden Herleitung allerdings fragwürdig. Denn das katholische Bekenntnis des Autors Döblin führt nicht zwangsläufig dazu, sämtliche literarischen Werke der späten Jahre als Konfigurationen seines Bekenntniswillens und seiner missionarischen Absichten deuten zu müssen.

Die den Sammelband abschließenden Aufsätze erweisen sich als ähnlich stark an den biografischen Grenzgängen, aber auch an den geografischen Grenzüberschreitungen Döblins interessiert. All seine Versuche, an das Leben in Deutschland vor 1933 anzuknüpfen sowie seine Bemühungen, mit den Deutschen der Nachkriegszeit ins Gespräch zu kommen, ihre Unterstützung des Nationalsozialismus zu verstehen, sie gar umzuerziehen, zerschlagen sich. Während Sabine Kyora es als Stärke der sehr unterschiedlich ausfallenden Erklärungsansätze Döblins für den Nationalsozialismus hervorhebt, dass sie nicht harmonisierbar seien, zeichnet Mombert einen „Modellfall des Grenzgängertums“ – das Scheitern der Zeitschrift „Das Goldene Tor“, die Döblin in den Jahren 1946 bis 1951 herausgab – nach.

Titelbild

Christine Maillard / Monique Mombert (Hg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium. Strasbourg 2003. Der Grenzgänger Alfred Döblin, 1940-1957. Biographie und Werk.
Peter Lang Verlag, Bern u.a. 2006.
258 Seiten, 55,60 EUR.
ISBN-10: 3039108719
ISBN-13: 9783039108718

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