Der spielerische Friedensmacher

Zum 80. Geburtstag des Nobelpreisträgers Imre Kertész

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich nehme mich nicht so ernst, tue nicht so, als ob ich etwas Wichtiges auf dieser Welt machen könnte. Ich spiele mit meinen Erfahrungen, mit meinem Leben. Etwas zu schreiben ist ein Spiel“, bekannte Imre Kertész 2006 in einem Interview mit der „Zeit“. Vornehme Zurückhaltung, leicht kokettes Understatement und spitzzüngige Ironie klingen aus diesen Worten – ein auch für Kertész’ literarisches Werk charakteristischer Tonfall.

„In Ungarn bin ich zum Nationalhelden geworden. Ich muss diese Rolle annehmen. Wir sind gespalten, Liberale und Nationalisten stehen sich unversöhnlich gegenüber. Meine Aufgabe heißt jetzt: Frieden machen“, erklärte der Autor vor sechs Jahren in einem Interview. Seine nach der Nobelpreisverleihung enorm gewachsene Popularität genießt Kertész, der seit knapp zehn Jahren in Berlin lebt, in vollen Zügen und kommt vielen internationalen Einladungen nach. So war er unter anderem 2007 Gastredner bei der Auschwitz-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Kertész hielt keine politische Rede, sondern las vor den überraschten Abgeordneten aus seinem Roman „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“.

„Kertész beschreibt in seinem Werk die Zerbrechlichkeit des Einzelnen in einem barbarischen Geschichtsverlauf“, hieß es 2002 – absolut zutreffend – in der Begründung des Stockholmer Literaturnobelpreiskomitees zur Auszeichnung des Autors. Der ungarische Schriftsteller ist immer ein querdenkender Individualist gewesen, der sich weder literarisch noch politisch in die gängigen Kategorien einordnen lässt. Er hat sich als KZ-Überlebender stets vehement gegen den „widerwärtigen Stempel des Opfers“ gewehrt und immer wieder beharrlich seine ureigene Form des intellektuellen Nonkonformismus verteidigt: „Ich bin ein anderer Jude. Was für einer? Ein Keinerlei-Jude. Schon seit langem suche ich weder Heimat noch Identität. Ich bin anders.“ Kertész’ „geistige Heimat“ liegt in der Literatur.

Spätestens seit dem Erfolg seines „Romans eines Schicksallosen“ (deutsch 1996) wird sein Name in der ersten Reihe der europäischen Romanciers geführt. Erst zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in Ungarn erschien dieser erschütternde Auschwitz-Roman, mit dessen Niederschrift der Autor schon 1960 begonnen hatte, in deutscher Übersetzung. Ein Thema, das ihn zeitlebens beschäftigt hat: „Gegen mich wird vorgebracht, ich schriebe nur über ein einziges Thema (nämlich Auschwitz) und sei somit nicht repräsentativ für Ungarn.“

Kertész, am 9. November 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 von den Nazis deportiert, überlebte die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz, machte nach seiner Rückkehr nach Budapest 1948 sein Abitur und arbeitete dann als Journalist bei der später von den Kommunisten übernommenen Tageszeitung „Világosság“. Seine ersten künstlerischen Versuche machte Kertész als Textschreiber für Musicals, dann begann er Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke zu schreiben und machte sich überdies als Übersetzer von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Elias Canetti, Joseph Roth und Ludwig Wittgenstein rasch einen Namen.

Im Mittelpunkt seines literarischen Werks steht die Trilogie, die Kertész mit dem „Roman eines Schicksallosen“ (1975) eröffnete und mit den Romanen „Fiasko“ (1988) und „Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind“ (1989) fortsetzte. Der Zeitzeuge des Grauens vermeidet es, allzu stark aus dem Blickwinkel der Opfer zu schreiben, sondern bevorzugt als Erzählperspektive eine Art höhere moralische Instanz – inspiriert von einem ideologiefreien Humanismus.

Die letzte bedeutende Veröffentlichung war der 2003 im Suhrkamp Verlag erschienene schmale Roman „Liquidation“. Darin steht – man darf autobiografische Parallelen vermuten – ein ungarischer Intellektueller im Zentrum, der mit dem Verlust der alten politischen Strukturen (der Fall des „Eisernen Vorhangs“) auch die Bodenhaftung im Alltag verliert.

Seine Bücher eignen sich ganz und gar nicht für die schnelle Lektüre zwischendurch, denn sie stecken voller hintergründiger Anspielungen, listenreicher Verschachtelungen und nur mäßig getarnter Querverweise auf frühere Werke. „Fiasko“ zu lesen, ohne den „Roman eines Schicksallosen“ zu kennen, dürfte ein schwieriges Unterfangen sein, denn Kertész’ Gesamtwerk kommt wie ein gigantisches Puzzle daher. Fehlt ein Mosaiksteinchen, fügt sich der Rest nicht zu einer harmonischen Einheit.

Bei Rowohlt sind in diesem Herbst gleich zwei Bände zum runden Geburtstag erschienen, ein „Imre-Kertész-Wörterbuch“ und seine aufschlussreichen Briefe an die Schweizer Journalistin Eva Haldimann, in denen es vor allem um die ungarischen Befindlichkeiten nach der politischen Wende von 1989 geht.

Titelbild

Imre Kertész: Briefe an Eva Haldimann.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
140 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783498035457

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Titelbild

László Földényi: Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Akos Doma.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
363 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498021221

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