Teaching Libido

Er war der Polyhistor der Psychoanalyse: Elke Mühlleitner erzählt das Leben Otto Fenichels

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früh übt sich, wer ein Psychoanalytiker werden will: Gerade einmal 18 Jahre alt war Otto Fenichel, als er 1915 Wiener Jugendliche befragte, wann und auf welche Weise sie aufgeklärt worden waren. „Alle unsere Konflikte entspringen der Sexualität“: Davon war der frisch gebackene Medizinstudent überzeugt, der in dieser Zeit bereits den Vorlesungen Sigmund Freuds an der Wiener Universität lauschte.

Als Fenichel drei Jahrzehnte später im amerikanischen Exil im Alter von nur 48 Jahren an einem Hirn-Aneurysma starb, wurde er als „Leuchtturm“ der Psychoanalyse, als ihr „Enzyklopädist“ und „Polyhistor“ gewürdigt. Seine Neurosenlehre, ein dreibändiges Kompendium, das nur Wochen vor seinem Tod erschien, gilt bis heute als ein Standardwerk.

Dennoch geriet Fenichel, 1897 als Sohn assimilierter Wiener Juden geboren, nach dem Krieg rasch in Vergessenheit. Aufmerksam wurde man auf ihn erst wieder im Umkreis der ’68er-Studentenbewegung, die sich für ihn vor allem als langjährigen Weggefährte des Sexualforschers Wilhelm Reich interessierte. Fenichels tatsächliche Bedeutung für den Links-Freudianismus der 1920er- und 1930er-Jahre wurde aber erst 1999 deutlich, als erstmals seine „Geheimen Rundbriefe“ veröffentlicht wurden. Mit diesen Schreiben versuchte er, die Diskussion mit den gleichgesinnten Kollegen fortzusetzen, die es nach 1933 bis nach Ceylon, Palästina und Japan verschlagen hatte – ein Schlüsseldokument für die kurze Geschichte der „marxistischen“ Psychoanalyse.

Elke Mühlleitner, Mitherausgeberin der Rundbriefe, hat nun die erste Fenichel-Biografie vorgelegt. Elegant geschrieben, klug strukturiert und vorbildlich methodisch reflektiert, erzählt sie das exemplarische Leben eines Vertreters der zweiten Generation der Psychoanalyse. Zugute kommt der Gießener Psychologin eine ungewöhnlich gute Materiallage. Seit seiner Kindheit führte Fenichel mehrere „Büchel“ gleichzeitig: Ausflugs-, Theater-, Kino-, Lese- und Korrespondenzlisten, die sein Leben über weite Strecken fast lückenlos dokumentieren. Mühlleitner führt diesen ungewöhnlichen Aufschreibefuror auf Fenichels Ängste und Hemmungen zurück. So konnte er sich als Kind keine Gesichter merken – und vertraute daher später auf seine diversen Logbücher.

Wie beeindruckt Freud von dem umtriebigen Studiosus war, zeigt sich daran, dass er schon den 20-Jährigen einlud, vor der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung vorzutragen; zwei Jahre später, 1920, wurde Fenichel ihr jüngstes Mitglied. Später schätzte Freud Fenichel vor allem als Rezensent von Fachliteratur: „Kann vielleicht ein scharfer Kopf wie Fenichel der Welt erzählen, was der Narr will?“, polterte Freud einmal, als ein ihm unverständliches Werk auf seinem Schreibtisch lag.

1922 zog es Fenichel nach Berlin, dem neuen Zentrum der Bewegung. An der dortigen psychoanalytischen Poliklinik avancierte der Workaholic in wenigen Jahren zu einem der einflussreichsten Analytiker. Fenichels Stärke war jedoch nicht die therapeutische Praxis – sein Seufzer „Alle meine Patienten sind meschugge“ wurde unter den Berliner Kollegen zum Running Gag –, sondern die Vermittlung der Freud’schen Lehre an die nächste Generation; er selbst bescheinigte sich einmal eine „Teaching Libido“. Als begnadeter Netzwerker gründete Fenichel dabei immer wieder informelle Zirkel, in denen sich der Nachwuchs frei austauschen konnte, wie das Berliner „Kinderseminar“.

Aus letzterem entstand in den Weimarer Jahren bald ein Kreis marxistisch interessierter Analytiker und Ärzte, unter ihnen Wilhelm Reich. Freud war Reichs „bolschewistische Propaganda“ freilich ein Gräuel. So kam es, wie es kommen musste: Nicht nur Reich, auch der ungleich gemäßigtere Fenichel, der die Gesellschaft allein über die Therapie des Einzelnen verändern wollte, war Freud bald „gründlich zuwider“.

Anders als der kompromisslose Reich war Fenichel auf Ausgleich und Zusammenhalt der Bewegung aus. Er glaubte an eine „Revolution von unten“ (Mühlleitner), hielt vormittags offizielle Kurse und abends private Seminare über eine materialistische Psychologie, galt so den einen als orthodoxer Freudianer, den anderen als „marxistischer Analytiker“. Schade nur, dass sich Mühlleitner darüber, welche Auswirkungen dieses Spannungsfeld auf Fenichels theoretische Arbeit hatte, auch im Unterschied zu den Theorien Reichs, nur mit spärlichen Hinweisen begnügt.

„Der Ratio ist der Krieg angesagt…. Es gibt – in Trauer – Hoffnung in Amerika“, schrieb Fenichel 1938, kurz vor seiner Ankunft in den USA, seinem letzten Zufluchtsort nach Stationen in Oslo und Prag. Es gelang ihm sogar, neben seiner Frau und seiner Geliebten auch seine Mutter und seinen Bruder in die Staaten zu holen. Beruflich wurden die USA für ihn jedoch zu einer Enttäuschung.

Denn dort diente eine ent-sexualisierte Psychoanalyse längst nur noch der Wieder-Anpassung des Einzelnen an die gesellschaftliche Realität. In den emigrierten europäischen Kollegen sahen die amerikanischen Analytiker vor allem eine lästige Konkurrenz, weshalb man ihre Ausbildung gar nicht erst anerkannte. Wieder entschloss sich Fenichel, um den sich in Los Angeles schnell ein neuer Schülerkreis, die „Fenichel Boys“ bildete, nicht zu rebellieren, sondern zu versuchen, das System von innen heraus zu verändern: 1945, parallel zum Abschluss seines Lebenswerkes, der „Psychoanalytic Theory of Neurosis“ und wenige Monate vor seinem überraschenden Tod, begann er mit 47 Jahren noch einmal eine reguläre ärztliche Ausbildung in einem Krankenhaus.

Titelbild

Elke Mühlleitner: Ich - Fenichel. Das Leben eines Psychoanalytikers im 20. Jahrhundert.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008.
448 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054295

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