1944: Fiktionen der Erinnerung

Über den Roman „Webers Protokoll” von Nora Bossong

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erinnerung ist fließend. Erinnern ist schwierig. Darüber schreiben ebenso. Nora Bossong schafft es trotzdem, in ihrem neuen Roman „Webers Protokoll“ ein feines Geflecht zu entwerfen, das ähnlich fragil zu sein scheint, wie es Erinnerung ist. Die Rekonstruktion des lückenhaften Gebildes Erinnerung: Ein poetisches Abbild eines Phänomens, das in seiner ganzen Komplexität kaum zu fassen ist. Und doch wird in dem Roman ebendieses thematisiert und anhand des „Protokolls“, einer „Metapher für Erinnerung“ in ihrer vielschichtigen Bedeutung und in ihren Möglichkeiten, verdeutlicht. Dabei ist die Geschichte des Romans schnell erzählt. Hauptperson ist Weber, ein Diplomat des Dritten Reiches, in der Botschaft in Mailand im Jahr 1943/44 das Deutsche Reich vertretend. Eine weitere Erzählebene spielt im Nachkriegsdeutschland und Weber versucht, im diplomatischen Dienst der neuen Bundesrepublik wieder Fuß zu fassen. Beide Erzählebenen werden auf der Metaebene von einer Journalistin rekonstruiert, die einen Zeitzeugen der Ereignisse in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts interviewt.

Die Verschränkung der Erzählstränge zieht sich durch das ganze Buch, wobei die gegenwärtige Erzählerin mit ihrem Interviewpartner im Hintergrund bleibt. Die zentrale Fabel ist die Rekonstruktion der Ereignisse aus Webers eigener Vergangenheit, zu der er Anfang der 1950er-Jahre gezwungen wird. Dabei hat Bossong die „Erinnerungsschatten“ und ihre Trübung durch die perforierte Erinnerung Webers blicken lassen, die deutlich macht, wie unstrukturiert, lückenhaft und „schönredend“ die eigene Erinnerung ist und sein kann – besonders in Hinblick auf die eigene Persönlichkeit und die ihr immanenten „Verfehlungen“. Die Anmerkungen zur Erinnerung lässt Bossong geschickt einfließen: „,Prost, Weber! Auf die alten Zeiten!‘ Die Gläser schlagen aneinander. / Welche Zeiten, fragt Weber.“ Oder wenn er auf „Fehler“, die er gemacht haben soll, angesprochen wird, reagiert Weber – wie sonst auch – mit Irritation: „Aber welche Fehler? Weber erinnert sich nicht. Er erinnert sich nur, dass er sich erinnern müsste. Dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Satz, den er in seinem Kopf schwach und stechend hört, und einem Fehler, den er – oder vielleicht war es ein anderer? – begangen hat, irgendwann einmal. Wann auch immer.“ Die Strategien der Erinnerung sind getrübt vom eigenen Filter der Wahrnehmung und „verschwommenen“ Vorstellungen von der eigenen Vergangenheit.

Bossong webt ein feines Netz von Erinnerung, Imagination, Selbstbetrug und Verdrängung. Erzählerisch auf hohem Niveau bedient sie sich einer filigranen Sprache und charakterisiert die Hauptperson mit einfühlsamer Sympathie, ohne dessen charakterliche Ambivalenz aus den Augen zu verlieren. Pointiert werden die Charakterisierungen der Personen zusammengefasst: „Und vielleicht ist dies Webers Trick: zu bemerken, wann er eine Sache besser nicht durchschaut.“

Bossongs Roman ist ein differenzierter Beitrag zum Thema „Erinnerung“. Und bis auf ein typografisches Problem die Lesbarkeit betreffend – fast die Hälfte des Buches ist kursiviert mit einer als Brotschrift nur bedingt geeigneten Schrifttype gesetzt worden – gibt es an diesem erzählerisch hochkarätigen Buch nichts zu beanstanden. Selbst wenn das Thema vielleicht auf den ersten Blick abwegig erscheint, tritt es hinter der literarischen Qualität des Romans weit zurück. Lakonisch, nahezu weise und selbstreflektierend, fast eine Poetik definierend, schließt Bossong mit den Worten des von der Journalistin interviewten Diplomaten: „Geben Sie’s auf, meine Liebe, Sie können nicht die Vergangenheit, Sie können immer nur sich selbst erzählen. Und Ihr Weber ist nichts, eine Chiffre, eine Erfindung von Ihnen, mein Mädchen.“

Titelbild

Nora Bossong: Webers Protokoll. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2009.
284 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001599

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch