Stinkefinger der Liebe

Über Helmut Kraussers neuen Roman „Einsamkeit und Sex und Mitleid“

Von Heide LutoschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heide Lutosch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nichts gegen Callboys, Punker und Karrierefrauen mit viel Geld – aber wer seinen Roman aus solchen Figuren zusammensetzt, muss mit dem Vorwurf der Trivialität rechnen. Möglich, dass man auch aus ihnen literarisch etwas halbwegs Komplexes machen könnte, dass man ihre Probleme durchdenken, den Grundwiderspruch ihrer Lebensweise veranschaulichen, sie zu unverwechselbaren, leuchtenden, in sich funktionierenden Figuren ausgestalten könnte, sodass sie mehr werden als postmoderne Wiedergänger der gefallenen Mädchen, Findelkinder und traurigen Grafen der Groschenromane. Die Effekte von Sex, Gewalt und Glamour, die schon die bloße Nennung solcher Figuren auslösen, wären dafür eher hinderlich, und man müsste sehr bewusst dagegen anarbeiten. Das tut Helmut Krausser nicht – und nur, weil um seinen Roman das ernste Hardcover des DuMont-Verlages gebunden ist, gibt man dem Ganzen eine Chance.

So viel steht fest: Hier hat ein Autor sein Buch auf dem Reißbrett entworfen: Seine knapp zwanzig Figuren mit sprechenden Namen wie „Stern“, „König“ und „Pfennig“ ausgestattet, dafür gesorgt, dass aus allen Altersklassen und allen nicht ganz so langweiligen Hauptstadt-Milieus jemand vertreten ist, die Namen umkringelt und dann fleißig Verbindungslinien gezogen. Heraus kam ein schönes Netz, vom Verlag im Klappentext (und im Anschluss von fast allen Rezensenten) „Kaleidoskop“ genannt: Die Tanzlehrerin Janine will Uwe, den Verflossenen der Managerin, die sich den Callboy Vincent kommen lässt, der die Gelegenheitshure Vivien liebt, die bei Janine Tanzstunden nimmt und beinahe den christlichen Johnny entjungfert, der in die frühreife Swentja verliebt ist, deren pädophiler Lateinlehrer ihre kleine Schwester entführt und so weiter. Wie gesagt, der Realismus, mit dem das bei Krausser erzählt wird, ist ein Realismus aus zweiter Hand, ein Realismus des Klischees, der als solcher weder angestrebt noch reflektiert ist. Die Welt des Romans sieht aus wie bei Anne Will, BILD und Spiegel-Online: Managerinnen sind kalt, Punker dreckig, aber Callboys haben auch Gefühle. Und leider sind sie alle Egoisten.

Dies alles ist episodisch, um nicht zu sagen filmisch erzählt, und zielt auf Mehrsträngigkeit und Simultanität. Diese klassisch-modernen Ziele werden durchweg erreicht: Man weiß, dass Janine am Computer sitzt und Uwe eine E-Mail schreibt, während Vincent Julia fickt. Und der Punk, der dem Callboy auf dem Weg zu seinem „Gig“ ins Auge sticht, ist niemand anders als Holger, der Thomas und Uwe beklaut; vier Tage vorher den einen, vier Tage nachher den anderen. Der Effekt aber, den das hat, ist alles andere als modern. Es entsteht der Eindruck eines großen, zusammenhängenden Ganzen, das Berlin dann doch irgendwie ist. Der Zufall wird zum Schicksal, wenn sich die Kreise schließen, weil der Autor es so will.

Ja tatsächlich, Krausser will Zusammenhang, er will Gemeinschaft und Schicksal, und er spannt dafür einen auktorialen Erzähler ein, zu dem er dann nur halbherzig steht: Lieber würde er aus verschiedenen, personalen Perspektiven erzählen, mit jeweils dem Wortschatz und dem Ton, der der beschriebenen Figur zur Verfügung steht. Dass einem Doktor Stern seine Sneakers „peripher am Herzen“ liegen und er gleichzeitig fürchtet, damit „zu gewollt juvenil“ zu wirken, ist in diesem Sinne völlig in Ordnung. Aber wenn ein 50jähriger Lateinlehrer, und sei er noch so betrunken, von „seiner Ma“ spricht, wenn er auf die Mutter eines römischen Kaisers Bezug nimmt, oder wenn ein Karstadtmitarbeiter, von „Respekt im Wortsinn“ redet („als müsse man noch mal Rückschau halten“), dann ist das störend und kein bloßer Kunstfehler. Hier verplappert sich der auktoriale Erzähler, die Instanz, ohne die sich das lineare „X kennt Y kennt Z“ niemals zu einem bedeutungsvollen Kreis zusammenschließen würde.

Dass es hier in der Tat um Großes und Ganzes von nationalem Interesse geht, signalisiert schon der Titel mit seiner Anspielung auf die deutsche Nationalhymne. Nichts weniger als eine Momentaufnahme zur Lage der Nation will dieser Roman aus der Hauptstadt sein: Alles ganz schön zersplittert, ganz schön heruntergekommen hier! Und doch: Wünschen wir uns – mit einer Formulierung des pathetischen Schlusssatzes – nicht alle im Grunde einfach nur, dass „der Finger einer bedingungslosen, umfassenden Liebe“ uns berühre? Und weil Nationalismus, und sei er auch noch so esoterisch verbrämt, immer einhergeht mit Ressentiment, kann auch das nicht fehlen in diesem Roman: Endlich darf mal ein deutscher Doktor einem sprachlich zurückgebliebenen Kanaken so richtig auf die Fresse hauen! Das gibt sich Houellebecqsch, als Tabubruch und politische Inkorrektheit, aber ohne die wilde Entschlossenheit dieses Autors, die Widersprüche unter großem literarischem Risiko bis in die untersten Abgründe auszuloten. Und so müssen in diesem Buch allein vier weibliche Figuren sexuelle Gewalt entweder sehnlich erwünschen oder über sich ergehen lassen und es „nicht so schlimm“ finden. Die Frau schließlich, die sexuell erregt wird, wenn ein Callboy sie mit einem simulierten Genickschuss hinrichtet, heißt ausgerechnet Sarah Stern. Ob das schlecht versteckter Antisemitismus ist oder kalkulierter Skandal, bleibt unklar.

Eines aber wird bei Krausser klar: So schlecht steht es nicht um die deutsche Hauptstadt, man kann sich in ihr noch verlieben, hier kreuzen sich die Wege, und schließlich passt auf jeden Arsch ein Eimer. Allein vier glückliche Paare hat das Buch am Ende aufzuweisen. Was daran, wie im Feuilleton behauptet, „satirisch“ sein soll, „rabenschwarz“ und „bitterböse“, das weiß nur der Finger der Liebe.

Titelbild

Helmut Krausser: Einsamkeit und Sex und Mitleid. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2009.
240 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783832180928

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