Verstaubte Archive

Neue Anthologien zur deutschen Lyrik – Kritisch kommentiert und mit Vorschlägen zur Güte versehen

Von Felix Philipp IngoldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Philipp Ingold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I

Wenn die Anthologie – schon in der vorchristlichen griechischen Antike als Reader’s Digest bekannt und geschätzt – heute zu den beliebtesten Darbietungsformen literarischer Texte gehört, ist dies einerseits wohl darauf zurückzuführen, dass für die Lektüre solcher Texte, falls sie denn überhaupt ein interessiertes Publikum finden, kaum noch Zeit zur Verfügung steht; anderseits darauf, dass die Quantität des Angebots selbst für professionelle Leser unüberschaubar geworden ist, ohne Orientierungshilfen also nicht mehr bewältigt werden kann.

Anthologien aller Art – ob „Lektüre für Minuten“ oder „Gedichte von Frauen“, ob „Hesse für Manager“ oder „Goethe für den Urlaub“ – bieten die jeweils gewünschte Orientierung und liefern homöopathische Textverschnitte, die sich beiläufig rezipieren, zumeist auch leicht verdauen lassen. Dies gilt, mit gewissen Einschränkungen, ebenso für groß angelegte anthologische Werke, die eine nationale literarische Kultur (etwa deutsche Dichtung von den Anfängen bis heute), die Literatur einer Epoche (zum Beispiel Barocklyrik) oder einer Generation (etwa das expressionistische Jahrzehnt), einen literarischen Themenkreis (wie Liebes-, Heimatdichtung) oder eine besondere literarische Textsorte (zum Beispiel das Sonett, die Ballade) repräsentativ vergegenwärtigen und damit – gewollt oder ungewollt, direkt oder indirekt – zur Kanonisierung bestimmter Autoren und Texte beitragen.

Die jüngst wieder vermehrt debattierte Frage nach Fug und Unfug literarischer beziehungsweise literarhistorischer Kanonisierung ist naturgemäß eng verknüpft mit der Frage nach der Opportunität – den Kriterien, der Funktion – anthologischer Textaufbereitung. Denn jede Anthologie, auch jene, die bloss „für Minuten“ Lesestoff bereithält, trägt auf ihre Weise zur Bestätigung, zur Modifizierung, bestenfalls zur Erweiterung des bestehenden Kanons bei.

In ihrem ursprünglichen Verständnis war anthologische Lektüre nichts anderes als die Lese, das Abzählen und Einbringen von „Blüten“, mithin eine Auslese und ein Ablesen „bester“ Texte. Welche Texte die „besten“ seien, ist bis heute das Hauptinteresse nicht bloß der meisten Leser, sondern auch vieler Literarhistoriker und Kritiker sowie, ohne Ausnahme, aller Anthologisten geblieben. Wobei als die „besten“ gemeinhin jene Texte zu gelten haben, denen man Eigenschaften wie Zeitlosigkeit (oder zeitlose Aktualität), Allgemeingültigkeit (somit auch Allgemeinverständlichkeit) oder Vorbildlichkeit (das heißt traditionsbildende Wirkung) zugutehalten kann. Je „besser“ ein Text ist, desto eher wird man ihm „bleibende“ Bedeutung, wenn nicht gar „ewigen“ Sinn zugestehen.

Von daher erstaunt es nicht (und irritiert es doch), dass eben diese – zugleich archivalische und wertsetzende – Funktion des Anthologisierens bis in die jüngste Zeit durch entsprechende Titelgebungen festgeschrieben wird. Da ist denn vom „ewigen Vorrat“, vom „ewigen Kreis“, vom „ewigen Brunnen“ deutscher Dichtung die Rede, und noch 1995 glaubte ein bekannter Herausgeber unter dem hochgemuten Titel „Das bleibt“ festhalten und beglaubigen zu können, welche Gedichte aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein heutiger Leser als unvergänglichen lyrischen Proviant abzuspeichern hat. Das ist alte didaktische, um nicht zu sagen diktatorische Schule der Literaturvermittlung. Doch man gehe hin und stelle fest, wie viele „bleibende“ Autoren aus jener Sammlung – nicht anders als die meist recht kurzlebigen Trendsetter aus irgendwelchen Jahrbüchern oder Almanachen aktueller Lyrik – bereits wieder ins weite unfruchtbare Feld der Vergessenen oder der zu Vergessenden abgedriftet sind, um zu realisieren, dass „Schönstes“, „Bestes“, „Bleibendes“ nicht durch Dekret und auch nicht durch Konsens ein für allemal festgehalten werden kann.

II

Die anhaltende Beliebtheit anthologischer Synthesen ist durch mehrere jüngst erschienene oder nachgedruckte Sammlungen deutschsprachiger Lyrik eindrücklich dokumentiert, Sammlungen allerdings, die durchweg – obzwar mit unterschiedlicher Akzentsetzung – auf die schulbuchübliche Wahrung althergebrachter Wert- und Vorurteile ausgerichtet bleiben, die den bestehenden Kanon also weitgehend unkritisch bestätigen und ihn zusätzlich festigen dadurch, dass sie auch die zeitgenössische Dichtung auf ihn zuschneiden beziehungsweise von ihm herleiten. Dieser traditionalistische, aus der Konvergenz literarischer Erfahrung, literarischen Geschmacks und literarischer Propädeutik sich rechtfertigende Zugang scheint für die Kompilation einschlägiger Anthologien weiterhin bestimmend zu sein, und das vorrangige, freilich nicht objektivierbare Auswahlkriterium ist und bleibt das Gefallen, mithin das Angesprochen-, das Angerührtsein dessen, der die Texte sichtet und auswählt.

Eine „Anthologie geliebter deutscher Verse“, die 1953, zusammengestellt von namhaften Juroren wie Max Rychner, Emil Staiger und C. G. Jung, unterm Titel „Trunken von Gedichten“ erschienen ist, kann dazu als Modell dienen: Man reicht weiter, was man selber „liebt“, wovon man „trunken“ ist und was letztlich keiner zusätzlichen Rechtfertigung bedarf. Und so plätschert dann eben der „ewige Brunnen“ deutscher Lyrik in staunenswerter Stetigkeit dahin, vermag Anthologie um Anthologie zu alimentieren, ohne dass er jemals nachhaltig zum Aufwallen oder auch bloss zur Umschichtung seiner Resssourcen gebracht würde.

Die prägende Schwerkraft dessen, was gefällt und was, weil es so „schön“ ist, gern für „ewig“ gehalten wird, hat sich längst klar etabliert. Seit rund 150 Jahren gibt es einen Kanon deutscher Dichtung, abgestellt auf einen Kernbestand „beliebter“ Texte, allmählich angereichert durch neue, jeweils mit grossem Verzug hinzukommende „beste“ und „schönste“ Gedichte jüngerer Autoren, die sich in den bereits vorhandenen „ewigen Vorrat“ problemlos integrieren lassen – problemlos insofern, als das Neue in Bezug auf das Überlieferte sich als anschlussfähig, gleichsam als organischer Zuwachs erweist.

Von daher ist die auffallende Tatsache zu erklären, dass innovative, antikanonische, deshalb schwer zu rubrizierende, oft auch schwer zu verstehende Texte kaum je in den „ewigen Vorrat“ gemeinhin beliebter Gedichte eingehen. Höchst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Statistik solcher Gedichte, die Hans Braam anhand von 200 Anthologien deutscher Poesie aus dem Zeitraum zwischen 1700 und 2000 ermittelt hat und die deutlich macht, wie weit der lyrische Publikumsgeschmack hinter der jeweils aktuellen Literaturentwicklung zurückbleibt, deutlich also auch, dass Anthologien in aller Regel den bestehenden Kanon legitimieren und festigen, womit sie naturgemäß eine konservative, dem Bekannten und Gefälligen zugewandte Lektüre fördern.

Unter den zehn meistgedruckten anthologischen Gedichten der deutschsprachigen Literatur finden sich deren fünf von Johann Wolfgang Goethe, vier von Friedrich Schiller, je eine (ex aequo) von Friedrich Klopstock und Matthias Claudius. Erst an 76. Stelle und dann erneut auf Platz 85 tritt mit Hugo von Hofmannsthal ein Lyriker des 20. Jahrhunderts dazu, gefolgt von Stefan George (96) und Rainer Maria Rilke (105). Ab Rang 150 werden vorab die Dichter des Expressionismus zusätzlich berücksichtigt (Trakl, Heym, Brecht, viel später auch Benn, Lasker-Schüler), gleichwohl bleiben Goethe, Mörike, Eichendorff, Storm, zunehmend auch Hölderlin in der Statistik führend, bis mit Paul Celan, Günter Grass und Marie Luise Kaschnitz die ersten Vertreter der Nachkriegsmoderne zu Wort kommen. Danach werden bis ins Jahr 2004 – weiterhin von Goethe, Heine, Brentano, Rilke, Brecht eskortiert – nur noch Günter Eich, Erich Kästner, Christa Reinig, Eugen Gomringer und Ingeborg Bachmann für die Frequenzstatistik relevant.

Sicherlich müssten die Ergebnisse der Braam’schen Buchhaltung nach diversen Kriterien differenziert werden, klar wird aber auch ohnedies (und man ist darüber nicht erstaunt), dass die Anthologie eine ausschließlich konservatorische Darbietungsform ist, die den bestehenden Kanon immer wieder in Erinnerung ruft und ihn gleichzeitig arrondiert, wobei sie sich – was die Kriterien der Auswahl und der typologischen Relevanz der Texte betrifft – auf eine ansonsten in literarischen Dingen unerreichbare Objektivität berufen kann, nämlich jene eines subjektiv begründeten, über viele Generationen von Lesern und Herausgebern tradierten Kollektivurteils.

Wenn nach diesem tatsächlich populären, von keinerlei wissenschaftlichen oder literaturkritischen Erwägungen getrübten Urteil das „Abendlied“ von Claudius („Der Mond ist aufgegangen …“) als das schönste, das beste Gedicht der deutschsprachigen Wortkunst zu gelten hat, dann deshalb, weil es für sich in Anspruch nehmen kann, das beliebteste zu sein, will heißen – das bekannteste, das konsensfähigste, deshalb auch das meistgedruckte und meistgelesene Gedicht der gesamten lyrischen Überlieferung. – Deshalb? – Das Fragezeichen problematisiert die Abfolge von Ursache und Wirkung: Ist das „Abendlied“ deshalb zum beliebtesten Gedicht geworden, weil es am häufigsten zum Abdruck kam, oder wurde es so häufig abgedruckt, weil es eben das beliebteste war? So oder anders ist davon auszugehen, dass das Beste und Schönste, was der deutsche Lyrikkanon zu bieten hat, bis heute durch den Konsens des Gefallens bestimmt wird, und nicht durch poetologische Kriterien und literarhistorische Wertungen.

III

Nachdem im Jahr 2001 mit Walther Killys zehnbändiger Sammlung „Deutsche Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart“ die bis dahin umfangreichste und autoritativste Anthologie dieser Art geschlossen vorlag, sind in jüngster Zeit weitere einschlägige Gedichtbücher mit dem Anspruch herausgebracht worden, den Gesamtbestand deutscher Dichtung in repräsentativer Auslese zu vergegenwärtigen. All diese Neu- und Erstausgaben bleiben jedoch auf jeweils einen starken Band im Umfang von rund 1000 bis rund 1500 Druckseiten beschränkt, bieten also gegenüber Killy ein deutlich schmaleres Textcorpus, was notwendigerweise die Repräsentanz einschränkt, die Schwerkraft des Kanons erhöht, gleichzeitig aber auch, wegen der strengeren Auswahl, den subjektiven Faktor bei der Zusammenstellung des Materials verstärkt.

Nur ansatzweise – wenn überhaupt – lassen die neuerdings vorliegenden Anthologien zur deutschen Dichtung ein wie auch immer geartetes innovatives Ansinnen der Herausgeber erkennen. Von Ludwig Reiners, dessen exemplarisches „Hausbuch deutscher Dichtung“ seit 1955 unter dem Titel „Der ewige Brunnen“ vielfach aufgelegt wurde und nun als aktualisierte Jubiläumsausgabe greifbar ist, wird man dies nicht erwarten. Das „Hausbuch“, längst zu einem Klassiker seiner Gattung geworden, sollte nach der Nazi- und Kriegszeit in einer ersten grossen Rückschau den ideologisch verfälschten deutschen Lyrikkanon erneut in seiner weltliterarischen Erhabenheit vor Augen führen. Das war damals sicherlich ein bedeutsames hygienisches wie auch konservatorisches Unterfangen. „Für Millionen Leserinnen und Leser wurde dieses Buch zum Ort der Begegnung mit der deutschen Dichtkunst“, heißt es im Vorspruch des Verlags zur jüngsten Neuauflage: „Es ist ein schier unerschöpfliches Lesebuch und für viele ein Erbauungsbuch. Für jeden Geschmack, für alle Altersstufen ist etwas darin vorhanden. Es finden sich die zum literarischen Kanon zählenden Gedichte ebenso wie unbekanntere und heute fast vergessene. In den Gedichten spiegeln sich die Lebenserfahrungen aus acht Jahrhunderten.“

Es ist erstaunlich und bleibt enttäuschend, dass auch die neuesten Textsammlungen zur deutschsprachigen Lyrik dieses editorische Minimalprogramm – Erinnerung, Erbauung, Lebenserfahrung: „für alle etwas“ – kaum hinausgehen. Die Anthologie als eigenständiges Buchwerk scheint wenig wandlungs-, wenig ausbaufähig zu sein und wird nach wie vor – als Speicher, als Archiv, als Arsenal – in erster Linie zur Sicherung des Kanons und zur didaktischen Begradigung des Publikumsgeschmacks eingesetzt.

Selbst der verhältnismäßig hohe Anteil zeitgenössischer Dichtung, mit dem die jüngsten Anthologien aufwarten, dient vorab zur Bestätigung (allenfalls zur Erweiterung) des Kanons und gibt keinen brauchbaren Aufschluss über Status und Zukunft einer literarischen Gattung, die zwar von zahlreichen Autoren nach wie vor gepflegt, von einem breiteren Publikum jedoch, das vorrangig an den neuen elektronischen Medien orientiert ist, nicht mehr wahrgenommen, schon gar nicht ernstgenommen wird. Gedichte, „klassische“ wie „moderne“, werden heute fast nur noch von Dichterinnen oder Dichtern gelesen. Derweil der „ewige Brunnen“ der Poesie sein Reservoir stetig anreichert, nimmt ebenso stetig der Lesedurst ab. Doch darüber täuschen heutige Lyriksammlungen mit ihrer Stofffülle geflissentlich hinweg. Statt auf Krise und Umbruch und Neuorientierung aufmerksam zu machen, alimentieren sie ihren „Brunnen“ mit immer noch mehr „Ewigkeit“.

Unter den derzeit aktiven Kuratoren deutscher Dichtung hat sich der Germanist Karl Otto Conrady den Spitzenplatz mit einer Textsammlung gesichert, die er seit gut drei Jahrzehnten in immer wieder anderer Komposition vorlegt. Inzwischen ist sein Name als Herausgeber des „Großen deutschen Gedichtbuchs“ von 1977 zum Buchtitel geworden: „Der Neue Conrady“, „Der Grosse Conrady“, „Der Kleine Conrady“, und jüngst „Der Hör-Conrady“ fügen sich zu einem weitläufigen anthologischen Konvolut, das allerdings keine andern Erwartungen (der Leserschaft) und auch keine andern Intentionen (des Herausgebers) erfüllen will als die, die schon Ludwig Reiners mit seinem „Hausbuch“ sich zum Ziel gesetzt hatte.

„Die Sammlungen sollen“, so heißt es heute bei Conrady, „in historischer Reihenfolge Beispiele der vielfältigen Gestaltungen aus der Geschichte der deutschen Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart bieten.“ Dieses von konzeptuellen Erwägungen völlig unbelastete Minimalprogramm leistet aber jede andere Anthologie auch, so wie auch jeder andere Herausgeber sich mit Conradys Definition dessen, was unter Lyrik zu verstehen sei, abfinden kann: „Zur Lyrik gehören alle Gedichte, und Gedichte sind sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise.“ Damit ist so gut wie alles, gleichwohl aber nicht viel mehr als nichts gesagt, nichts jedenfalls über die Kriterien, durch die ein starkes von einem schwachen, ein repräsentatives von einem beiläufigen oder generell ein anthologietaugliches von einem -untauglichen Gedicht zu unterscheiden ist.

Mit seiner diskret nachgeschobenen profession de foi – „besonders aber lag mir an Gedichten als beachtenswerten Zeugnissen an ihrem geschichtlichen Ort“ – macht Conrady dann jedoch hinreichend deutlich, dass er bei allem Respekt vor dem Kanon („viel Meisterliches“) primär an engagierter Dichtung interessiert ist, an Lyrik als Zeitdokument, und dies auch dort, wo das Engagement – etwa bei großdeutschen Patrioten wie Schenkendorf und Geibel, bei Nazipoeten wie Eckart, Anacker oder Boehme, bei linken Liedermachern wie Biermann und Degenhardt, aber auch bei ideologisch oder religiös gebundenen Autoren unterschiedlicher Couleur – die Kunst weitgehend aus der Literatur austreibt. Es ist nicht einzusehen, dass Hetz-, Droh-, Heils-, Triumphgedichte irgendwelcher Art, die sich durch gewalthafte Rhetorik ihren Kunstcharakter selbst austreiben, in einer Lyrikanthologie „verewigt“ werden sollten. Durch die konsequente Engführung von Dichtung und Zeitgeschichte wird bei Conrady, beim „Kleinen“ wie beim „Großen“, die Sprachkunst als solche (mit ihrem eigendynamischen Hang zu Spiel, Experiment, Nonsens, Selbstreflexion) über Gebühr marginalisiert und abgewertet gegenüber einer bekennenden, behauptenden, fordernden Dichtung, die sich von außerliterarischen Interessen leiten lässt.

Wer Conradys Vorliebe für zeitgeschichtlich relevante Lyrik teilen mag und deren dokumentarischen Wert zu schätzen weiß, wird dann freilich enttäuscht sein von der Sorglosigkeit, mit der er (wie die meisten Herausgeber epochenübergreifender Anthologien) die Originaltexte in ihrer Schriftgestalt – Orthografie, Typografie – begradigt, um sie „leichter lesbar“ zu machen. Erleichterte Lesbarkeit mag bei Gebrauchstexten aller Art und auch bei Erzählliteratur ein berechtigtes Desiderat sein, bei Lyrik indes sollte nicht die möglichst problemlose, sondern die möglichst adäquate, gegebenenfalls „schwierige“ (von den Autoren vielleicht bewusst „erschwerte“) Lektüre im Vordergrund stehen. Auch die visuelle Textgestalt hat Anteil am dokumentarischen – wie übrigens am künstlerischen – Charakter des Werks. Von daher versteht man nicht so recht, weshalb Conrady „veraltete“ Schreibweisen und grammatische Ausformungen durchweg eigenmächtig bereinigt (er selbst spricht diesbezüglich von „korrigieren“ oder auch „modernisieren“), und auch nicht, weshalb er heutigen Lesern mit didaktischem Furor eigens erklärt, was man sich, beispielsweise, unter den „Sirenen“, unter einem „Lenin“ oder „Lama“, den „Niagarafällen“ oder gar der „Treuhandanstalt“ vorzustellen hat – so als hätte man ein Gedicht dann nur verstanden, wenn man verstanden hat, worauf es außserhalb seiner selbst verweist.

Bei der Präsentation der deutschsprachigen Gegenwartslyrik – immerhin 350 von insgesamt 1325 Seiten sind Autoren der Jahrgänge 1941 bis 1982 gewidmet – wirkt sich Karl Otto Conradys dokumentarisches Interesse dahingehend aus, dass er schlichtweg alles, was ihm unter die Hand kommt, in seine Anthologie aufnimmt. Die Vielzahl von qualitativ wie thematisch höchst unterschiedlichen zeitgenössischen Texten legt die Vermutung nahe, dass in diesem Bereich auf objektive Auswahlkriterien völlig verzichtet wurde, will heißen, dass der Herausgeber ein weitreichendes Panorama jüngster Lyrik darbietet, das bloß insofern Objektivität beanspruchen kann, als es, frei nach dem unbedarften „Kraut-und-Rüben“-Prinzip, von allem und für alle „etwas bringt“, ohne irgendein editorisches Risiko einzugehen.

Gerade im zeitgenössischen Sektor des „Großen Conrady“ hätte man sich ein nach erkennbaren Kriterien strukturiertes Lektüreangebot gewünscht, und nicht bloß eine Dokumentation dessen, worauf der ungemein belesene Herausgeber so oder anders „aufmerksam wurde“. Conradys didaktische und dokumentarische Aufdringlichkeit mag tatsächlich als bedrängend, als einschränkend empfunden werden; sie macht jedenfalls das Promenieren zwischen den Epochen, Stilen und Autoren, die durch Tausende von Gedichten auf der historischen Achse repräsentiert werden, zu einer lehrhaften Pflichtübung mit einigem Erkenntnisgewinn, doch ohne jede Impulsgabe zu eigener, weiterführender Lyriklektüre.

Solche Impulse sind indessen reichlich zu gewinnen aus dem neu erschienenen „Hör-Conrady“, der unter dem schönen Titel „Lauter Lyrik“ auf 23 CDs einige hundert Texte, gelesen von professionellen Sprechern und Sprecherinnen, in ihrer puren Klanggestalt vor Ohren führt. Da bei der Rezitation nicht nur die Entstehungsdaten der Gedichte, sondern auch – eine ungewöhnliche, bemerkenswert produktive Entscheidung! – die Namen der Autoren fortgelassen werden, ist man als Hörer unmittelbar auf die Texte selbst verwiesen und kann sich ohne historisierendes Beiwerk auf deren sinnliche Qualitäten – Rhythmus, Melodik, Strophik etc. – einlassen, kann freier assoziieren und sich visuelle Metaphern nachhaltiger einprägen. Dass Matthias Claudius’ „Abendlied“ nicht nur als das berühmteste oder beliebteste Gedicht deutscher Sprache gelten kann, sondern als einer der vollkommensten lyrischen Texte überhaupt, macht die kongeniale Rezitation von Donata Höffer authentisch erfahrbar. Keine noch so geschickt instrumentierte Druckfassung vermöchte eine vergleichbar starke und eindringliche Wirkung hervorzurufen. Insofern bildet der „Hör-Conrady“ nunmehr ein unverzichtbares Supplement zu allen großen Anthologien deutscher Lyrik, die gegenwärtig greifbar sind.

IV

Dazu gehört neuerdings auch eine großangelegte Sammlung, die Hans-Joachim Simm unter dem Titel „Deutsche Gedichte“ vorlegt, um „die Entwicklung der deutschen Lyrik in annähernd zwölf Jahrhunderten exemplarisch [aufzu]zeigen“ (was ja wohl der Bestätigung des aktuell geltenden Kanons gleichkommt); dies „alles jedoch nicht unter dem Aspekt der Dokumentation, sondern stets im Hinblick auf Einfallsreichtum und Innovationskraft der Verfasser“ (wodurch eher die künstlerische Originalität denn die zeitgeschichtliche Relevanz der Texte privilegiert wird); aber auch, wie Simm außerdem mitteilt, unter Berücksichtigung „eines breiten Spektrums an Formen, Themen und Motiven“ sowie der „politischen Geschichte und der Alltagswelt“ – womit das Gesamtkonzept bis zur Beliebigkeit verwässert wäre, würden nicht „unvermeidlich auch die Vorlieben des Herausgebers“ ins Spiel gebracht, die das kanonische Textcorpus durch eine Beimischung von Subjektivität anreichern könnten.

Der subjektive Anteil scheint sich hier jedoch im Wesentlichen darauf zu beschränken, dass der Herausgeber, zumal im zeitgenössischen Bereich, vorwiegend Autorinnen und Autoren aus dem eigenen Verlagshaus heranzieht – von Elisabeth Borchers, Karin Kiwus oder Robert Schindel bis hin zu Oswald Egger und Christian Uetz fehlt kein Name, der jemals auf der Backlist von Suhrkamp/Insel gestanden hat. Abgesehen von solch unlauterer Eigenwerbung hat Simm keinerlei eigenständige Akzent- oder Wertsetzungen in seine umfassende Anthologie eingebracht. Vielmehr beschränkt sich seine Herausgeberschaft zu großen Teilen auf die Ausweidung älterer Anthologien, aus denen Versatzstücke aller Art ziemlich kritik- und lieblos zu einer Gedichtsammlung üblichen Zuschnitts kompiliert werden, ohne dass die allzu massive Präsenz von längst obsolet gewordenen kanonischen Dichtern – was ist heute von einem Hans Carossa zu halten? von einer Gertrude von Lefort? einem Rudolf G. Binding? – auch nur andeutungsweise hinterfragt oder gar korrigiert würde.

Und dabei wäre es doch dringend an der Zeit, auch andere, weit bekanntere Autoren, die zum Obligatorium deutscher Lyrikanthologien gehören, kritisch auf ihren kanonischen Rang hin zu befragen. Vermutlich müsste man dann – ein paar wenige Beispiele mögen genügen – Brentano und Mörike, Trakl und Hofmannsthal deutlich zurückstufen, wohingegen Uhland, Rückert und C. F. Meyer oder die vergessenen Expressionisten Robert Müller und Friedrich Eisenlohr ebenso deutlich aufzuwerten wären. – Auch das könnte, sollte eine Aufgabe für Anthologisten sein: den bestehenden Kanon immer wieder (viel tiefgreifender, auch viel häufiger als bisher üblich) neu auszutarieren, Autoren und Texte neu zu gewichten, ohne Tabubrüche oder riskante Ratings zu scheuen.

Diesem Anspruch wird am ehesten, wenn auch bloß in diskreten Ansätzen, Heinrich Detering als Herausgeber von „Reclams großem Buch der deutschen Gedichte“ gerecht. Zwar lässt auch er keinen Zweifel an seinem „Respekt vor dem Kanon“ und möchte auch er „größtmögliche Mannigfaltigkeit“ walten lassen, um den repräsentativen Anspruch seiner Textauswahl einzulösen, doch ein paar wenige unorthodoxe Akzentsetzungen lassen, wenn nicht seine „subjektive Überzeugung“, so doch das Bestreben erkennen, den weiterhin vorherrschenden anthologischen Konservatismus behutsam aufzuweichen.

So versucht Detering, durch ein differenziertes chronologisches Konzept die gewohnte linear-progressive Textabfolge (nach Geburtsjahr der Autoren beziehunsgweise Entstehungsjahr der Texte) die von ihm ausgewählten Gedichte gleichsam zu konzertieren, indem er sie – mit Referenz auf Hölderlins Friedensfeier – zu einem vielstimmigen „Gespräch“ vernetzt, zu einer direkten oder indirekten Wechselrede zwischen Dichtern, Dichterinnen unterschiedlicher Generationen, sogar auch unterschiedlicher Epochen. Dem liegt die generative Vorstellung der Entstehung von literarischen Texten aus älteren Textvorlagen zugrunde, eine Vorstellung, die hier Priorität bekommt gegenüber der Funktionalisierung des Gedichts als Zeitdokument oder als Ausdruck eines angeblich originären Personalstils.

Dennoch bleibt auch Deterings Anthologie weitgehend der chronologischen Perspektivierung unterstellt und steht damit – im Hinblick auf die Textauswahl insgesamt – in einer Reihe mit den durchaus gleichartigen Sammlungen von Simm und Conrady. Bloss in zwei marginalen Einzelpunkten setzt sich Detering von seinen Kollegen ab; einerseits durch die Aufnahme dichterischer „Übersetzungen mit dem Status originaler Nachdichtungen“ (von Opitz bis Buber, Klabund, Celan und anderen mehr), anderseits durch die Integration einzelner „vernachlässigter“ oder „vergessener“ Texte (etwa von Wolfgang Amadeus Mozart oder Franz Kafka), die bislang nicht als „Gedichte“ rezipiert wurden und folglich vom Kanon ausgeschlossen waren.

Eine Erneuerung der retrospektiven anthologischen Präsentation oder gar des geltenden Kanons deutscher Dichtung bedeutet dies allerdings noch lange nicht. Dazu fehlt es bei Detering letztlich doch an der Risikofreude, der Entschiedenheit und der notwendigen innovativen Kraft, um das überkommene Konzept der „repräsentativen“ Werkschau abzulösen durch eine Anthologie neuen Formats, die nicht mehr bloß Textbestände sichert und deren Realitäts- oder Geschichtsbezug dokumentiert. Vielmehr macht auch dieser Herausgeber kritiklos, wenn nicht gar hilflos Konzessionen an einen unbedarften Publikumsgeschmack, der auch noch an solchen Autoren festhält, die selbst für den germanistischen Kanon nicht mehr zum Obligatorium gehören – Autoren (des 20. Jahrhunderts) wie F. G. Jünger, Rudolf Borchardt, Reinhold Schneider, Josef Weinheber oder Albrecht Haushofer, ganz abgesehen von allzu vielen Namen des 18. und 19. Jahrhunderts (Hagedorn, Gellert, Gleim, Hölty und anderen), die bei der heutigen Leserschaft weder formal noch thematisch irgendein Interesse beanspruchen können.

Dies betrifft, nicht zuletzt, auch zahlreiche Gedichte von führenden, weithin unangefochtenen Autoren des Kanons, zu denen ich ohne Zögern „nebst Schillern und Göthen“ auch einen Eichendorff, einen Tieck, einen Storm, einen Gottfried Keller zählen würde, und selbst bei Lasker-Schüler oder Peter Huchel oder Paul Celan drängt sich meines Erachtens längst eine unverblendete kritische Lektüre auf, die sich über deren Klassikerbonus argumentativ hinwegzusetzen vermag. So wie von den meisten anthologisierten Gedichten nur wenige Verse stark genug sind, um längerfristig zu bestehen, sind auch von den meisten Autoren nur wenige Gedichte stark genug, um rechtens für immer zu bleiben.

V

Das tradierte, durch die hier erwähnten Lyriksammlungen noch einmal verfestigte Konzept einer deutschsprachigen Anthologie, die nach Maßgabe des Kanons eine exemplarische beziehungsweise repräsentative Auswahl „bester“ Gedichte bereithalten soll, bedarf dringend der Revision. Um eine solche einzuleiten und zu neuen Lesarten anzuregen, müssten wohl diverse einschneidende Vorentscheidungen getroffen werden.

1. Mein eigenes Desiderat wäre eine als Gesamtkunstwerk komponierte Anthologie, die die Texte unabhängig von Entstehungszeit und Epochenstil zur Geltung brächte, sie zu einem gemeinsamen Resonanzraum zusammenschlösse. So bräuchten die Gedichte für nichts anderes einzustehen als für sich selbst und wären unmittelbarer zu erfassen in ihrer sinnlichen Qualität – ihrer Rhythmik, Strophik, Melodik. Heutige Leser sollten sie auf ihre aktuelle, auch individuelle Brauchbarkeit prüfen, sollten sich aufgerufen fühlen oder sich dazu verführen lassen, etwas anzufangen damit, statt sie nach verblichenen Bedeutungen und gestrigen Wirklichkeitsbezügen abzufragen.

2. Optimal wäre unter diesem Gesichtspunkt eine Anthologie ohne Autorennamen und ohne historische Chronologie. Mein Vorschlag wäre, die Texte umgekehrt zur Chronologie anzuordnen, das heißt von der Gegenwart aus die Anfänge aufzusuchen. Die Namen der Autoren und die Entstehungsdaten der Gedichte würde ich nur im Inhaltsverzeichnis oder in einem gesonderten Index anführen.

3. Die üblichen Textsorten der Kunstdichtung wären zu ergänzen durch andere, auch außerliterarische Formen sprachlicher Gestaltung – etwa durch Beispiele aus den Bereichen der Aphoristik und der alltagssprachlichen Folkloristik (Slogans, Wortwitze und so weiter), der Werbesprache, der Rap-, Pop- oder SMS-Poesie (Twaikus und Ähnliches) sowie der anonymen Wortbilder im öffentlichen Raum (Spraysgraffiti).

4. Die Auslese der Gedichte sollte unabhängig vom literarhistorischen Rating des Autors erfolgen. Es gibt bei mediokren Autoren singuläre Meisterstücke, so wie es schwache Texte bei hoch kotierten Autoren gibt.

5. Die Erweiterung des anthologischen Einzugsgebiets auf außerliterarische oder vorliterarische Bereiche des Sprachschaffens muss nicht notwendigerweise auch den Umfang solcher Sammelwerke vergrößern. Mit durchschnittlich 1000 Druckseiten beziehungsweise rund 1.500 Gedichten sind die meisten Anthologien ohnehin viel zu voluminös. Je mehr der Umfang reduziert wird, desto schwieriger gestaltet sich die Auswahl und desto strenger müssen demzufolge deren Kriterien formuliert sein. Mehr als 500 Seiten sollte es eigentlich nicht brauchen, um eine grosse dichterische Kultur wie die deutsche in ihrem gegenwartstauglichen Bestand präsent zu machen.

6. Dieser Bestand kann niemals ultimativ gegeben sein, er bedarf ständiger Bereinigung und Erneuerung. Nicht alle Gewächse erreichen ihre Hochblüte zu gleicher Zeit, manche brauchen dazu Jahrzehnte, Jahrhunderte, andere blühen kurzfistig auf und welken ab über Nacht. Darauf hat die Anthologie – griechisch: „Blütenlese“ – Rücksicht zu nehmen. Statt von allem, was jemals geblüht hat, eine Trockenprobe im Herbarium aufzubewahren und somit Vergangenes zu archivieren, sollte sie sich besser als meteorologisches Register bewähren; sollte dartun, was uns blüht.

Anmerkung der Redaktion: Felix Philipp Ingold arbeitet, nach langjähriger Lehrtätigkeit, als Schriftsteller, Publizist und Übersetzer in Romainmôtier/Vaud; jüngste Buchpublikationen: „Wortnahme“ (Gedichte, 2007), „Russische Wege“ (Monographie, 2007), „Gegengabe“ (Prosa und Lyrik, 2009), „Faszination des Fremden“ (Essay, 2009); als Herausgeber: „Fehler im System“ (Aufsätze, 2008); als Übersetzer: Stanley Chapman, „Apropollinaire“ (2008).

Mit diesem Beitrag eröffnet er in literaturkritik.de eine Reihe von Artikeln, in denen er sich mit verschiedenen Arten von Anthologien auseinandersetzt.  

Titelbild

Hans Braam (Hg.): Die berühmtesten deutschen Gedichte. Auf der Grundlage von 200 Gedichtsammlungen ermittelt und zusammengestellt.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2004.
314 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3520840014
ISBN-13: 9783520840011

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Ludwig Reiners (Hg.): Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung.
Aktualisiert und erweitert von Albert von Schirnding.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
1136 Seiten, 16,20 EUR.
ISBN-10: 3406536387
ISBN-13: 9783406536380

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Heinrich Detering (Hg.): Reclams großes Buch der deutschen Gedichte.
Reclam Verlag, Leipzig 2007.
1000 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783150106501

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Karl Otto Conrady (Hg.): Der große Conrady. Das Buch deutscher Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2008.
1376 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783538040045

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Karl Otto Conrady (Hg.): Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady. Die große Sammlung deutscher Gedichte. 21 CD.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2008.
128,00 EUR.
ISBN-13: 9783491912588

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Hans J. Simm (Hg.): Deutsche Gedichte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
1471 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174400

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