Vermittler im Europa der Nationalstaaten

Walter Benjamin in den Aufsätzen von Chryssoula Kambas

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1981 erschien unter dem Titel „Vermittler“ ein Sammelband, der sich einer Reihe von Intellektuellen zuwandte, die auf dem Feld der Kultur zwischen Deutschland und Frankreich vermittelten oder deren Werk in Frankreich eine besondere Rezeption erfahren hatte. Gewidmet war er dem aus dem Elsass stammenden und im Jahr davor verstorbenen jüdischen Literaturwissenschaftler Robert Minder. Neben Heinrich Mann, Bernhard Groethuysen, Peter Szondi, Martin Heidegger, Lucien Goldmann und Friedrich Sieburg wurde auch Walter Benjamin in diese Sammlung aufgenommen. In ihrem Beitrag über Benjamin ließ die Autorin Monika Noll dessen intensive Auseinandersetzung mit der französischen Kultur mit dem Entstehen eines, wie sie schreibt, „bestimmteren politischen Engagements“ des Kritikers und Rezensenten in den 1920er-Jahren zusammenfallen. Am Ende des Aufsatzes, der vor allem auf Benjamins Arbeiten zur französischen Literatur, zu Julien Green, Marcel Proust oder den Sürrealismus-Aufsatz eingeht, steht das zeitgebundene Verdikt, Benjamin habe seinen Anspruch, auf der Seite der proletarischen Revolution gegen die bürgerliche Konterrevolution zu kämpfen, nicht eingelöst.

In der Einleitung des Bandes wird dagegen eine offenere Vorstellung von Vermittlung konturiert, die den Vermittler als eine Figur der Annäherung und des Ausgleichs charakterisiert, dem insbesondere in Krisenzeiten und vorwiegend im kulturellen und politischen Bereich eine bedeutende politische Aufgabe zuwachse. Dass dabei auf den Begriff „Aufgabe“ zurückgegriffen wird, lässt Walter Benjamin, dessen emphatische Verwendung des Begriffs bekannt ist, als exemplarisch für das Gesamtprojekt über deutsch-französische Kulturvermittlung erscheinen.

An die Vorstellung von Benjamin als einem deutsch-französischen Kulturvermittler knüpft auch der vorliegende Band von Chryssoula Kambas offensichtlich an und rückt sie erneut ins Zentrum. Die in Osnabrück lehrende Professorin hat sich innerhalb der Benjamin-Forschung bereits 1983 als profunde Kennerin vor allem für das Exil Walter Benjamins in Frankreich einen Namen gemacht, als ihre Studie „Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Kulturpolitik und Ästhetik“ bei Niemeyer in Tübingen herauskam.

Aus dem selben Jahr stammen auch die beiden ältesten der in den hier zu besprechenden Sammelband aufgenommenen Aufsätze. Der bei solchen Anthologien immer bestehenden Gefahr, für Disparates einen Zusammenhang zu behaupten, der nicht existiert, wusste Kambas zu entgehen. Trotzdem ist schade, dass sie auf ein ausführliches, die einzelnen Aufsätze miteinander verbindendes Vorwort verzichtet hat, in dem sie auch ihr Verständnis der drei aufgeladenen Begriffe „Moderne“, „Exil“ und „Kulturtransfer“ hätte darlegen können, die die Sammlung im Untertitel trägt.

In einer gerade einmal zwei Seiten umfassenden Vorbemerkung begnügt sich Kambas lediglich mit ein paar Hinweisen und der so weitreichenden wie verkürzenden These, dass Benjamins deutschsprachige Autorschaft in seiner Lektüre des französischen Schrifttums gründe. Als „freier Schriftsteller“, und Kambas setzt die heute gängige Berufsbezeichnung vor dem Hintergrund der prekären Lebenssituation Benjamins im Exil pointiert in Anführungszeichen, und Übersetzer französischer Literatur sei Benjamin ein „Mittler“ durchaus unterschiedlicher Diskurse in den deutschen Sprachraum gewesen.

Der Titel „Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ entstammt Benjamins „Sürrealismus“-Aufsatz von 1929. Aufgerufen ist damit ein zentraler Text, in dem Benjamin das Verhältnis von aktueller ästhetischer Avantgarde und politischer Praxis reflektiert. Sein hier entfalteter Gedankengang lässt den Surrealismus Ende der 1920er-Jahre als avancierteste literarische Praxis erscheinen. Diese setzt er einerseits vom Festhalten eines humanistischen Freiheitsbegriffs bei der sogenannten „linksbürgerlichen Intelligenz“ ab, wie er gleichzeitig auch die Vorstellung zurückweist, bürgerliche Künstler sollten sich als Meister proletarischer Kunst bewähren. Dem Surrealismus bescheinigt er dennoch, sich einer kommunistischen Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral immer weiter angenähert zu haben. Letztlich aber hält der Text die Trennung von Literatur und Politik aufrecht und zielt mit der Figur „profaner Erleuchtung“ eher auf die Verwandlung revolutionären Denkens und sakraler Denkfiguren in ästhetische Reflexion.

Dem Essay selbst sind allerdings nur wenige Abschnitte in der Anthologie gewidmet. Generell bleibt vor allem die religiöse Dimension von Benjamins Denken, die zumindest auch am Sürrealismus-Aufsatz hätte diskutiert werden können, weitgehend vernachlässigt. Spätestens seit dem Erscheinen von Hans Martin Dobers Habilitationsschrift „Die Moderne wahrnehmen. Über Religion im Werk Walter Benjamins“ im Jahr 2002 liegt eine Studie vor, in der die Bedeutung der Religion für Benjamins Denken detailreich nachgezeichnet wurde. In dem erst 2006 erschienenen und hier erneut aufgenommenen Text über das Verhältnis von Benjamins Übersetzer-Aufsatz zu Humboldts Sprachtheorie erinnert Kambas zwar im Kontext der frühen Schriften Benjamins an sein besonderes Moderne-Projekt, in dem „es um die erneute Zusammenschließung der Gebiete Sprache, Kunstwerk und Geschichte sowie die Bindung von Religion an dieses“ gegangen sei.

Auf die Einbeziehung zentraler Elemente jüdischer Theologie wie der messianischen Deutung des von Benjamin verwendeten Bildes von der Ergänzung der Sprachen zur „reinen Sprache“ geht sie jedoch nicht ein.

Insofern bleibt die für die einzelnen Studien durchweg plausible Theoriefigur des Kulturtransfers, der noch die der kulturellen Übersetzung hätte an die Seite gestellt werden können, leider beschränkt auf den Vergleich Deutschland – Frankreich. Durch das (stärkere) Einbeziehen von Benjamins Auseinandersetzung mit jüdischer Tradition und Religion unter den Bedingungen der Moderne sowie der auch durch die Verfolgung aufgezwungenen Reflexion des „Judeseins“ hätte womöglich eine komplexere theoretische Vorstellung von Kulturtransfer entwickelt werden können. Bei Kambas überwiegt allerdings grundsätzlich das Interesse an den politischen und literarischen Positionen Benjamins in Paris.

Zu den interessantesten der hier wiederaufgenommenen Texte zählen daher gerade die Aufsätze „Literaturdebatten im Pariser Exil“, der im Band der umfangreichste ist, „Bulletin de Vernuches. Quellen zur Internierung Walter Benjamins“ sowie „Exil des Intellektuellen und Großstadt“, in denen Kambas zum Teil unter Erschließung bislang unberücksichtigter Quellen viel von den konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen Benjamins im Exil, seinen Netzwerken und den politischen Debatten, in die er eingebunden war, sichtbar werden lässt. Im Verbund mit dem Text „Auswanderer aus dem Europa des Humanismus. Zum Europa-Begriff Benjamins“, dem einzigen originär für diesen Band entstandenen Aufsatz, während in der Vorbemerkung fälschlich von zwei Originalbeiträgen die Rede ist, besitzt die Aufsatzsammlung damit einen weiteren, zumindest impliziten Zusammenhang. Und der gründet in einer „Europa“-Vorstellung, die quer zu der politischen Ordnung der europäischen Nationalstaaten liegt. Auch wenn in einer Reihe von Benjamins Texten „prägnante Begriffsverwendungen von Europa“ anzutreffen seien, habe er jedoch einen „thematisch kohärenten Schwerpunkt“ zu Europa und dem Europäischen weder intendiert noch entwickelt. Dennoch gelingt es Kambas über verschiedene Berührungspunkte vor allem mit dem Europa-Diskurs nach 1918 und dem geografisch-politischen Europa eine Kontinuität in Benjamins Denken und seiner sich zuspitzenden Lebenssituation aufzuzeigen, die in ihren Aufsätzen immer wieder aufblitzt und die von der Figur des „europäischen Literaten“ aus dem frühen Briefwechsel mit Ludwig Strauß von 1912 schließlich bis zur Erfahrung des Flüchtlings, Vertriebenen und Inhaftierten in einem Europa der Flüchtlinge reicht.

Während die fundierten und quellengesättigten Rekonstruktionen verschiedener Abschnitte von Benjamins intellektueller Biografie und seines Exils im Kontext vor allem seiner Auseinandersetzung mit den Literaturdebatten und der politischen Situation im Frankreich der 1920er- und 1930er-Jahre sowie seiner Inhaftierung im Lager Château de Vernuches 1939 die Stärken des insgesamt sehr informativen Sammelbandes ausmachen, bleiben neben der Verengung des zugrundegelegten theoretischen Modells von Kulturtransfer vor allem das Fehlen eines Registers sowie die zum Teil sinnentstellenden Druckfehler zu bedauern.

Titelbild

Chryssoula Kambas: Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. Moderne, Exil und Kulturtransfer in Walter Benjamins Werk.
Offizin Verlag, Hannover 2009.
363 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783930345526

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