Rot und Schwarz

Ein Band versammelt zwölf Suchbewegungen ins Wien der Zwischenkriegszeit

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Deborah Holmes (Oxford, Wien) und Lisa Silverman (Yale, Milwaukee) haben einen Sammelband mit dem Titel „Interwar Vienna: Culture between Tradition and Modernity“ herausgebracht, mithin zu österreichischen Verhältnissen der 1920er- und 1930er-Jahre. Der Band enthält ein Dutzend Beiträge von eben so vielen Autoren, meistenteils Germanisten oder Historikern, tätig an amerikanischen, englischen und österreichischen Universitäten. Alle Texte wurden in englischer Sprache verfasst. Sie werden unter vier Rubriken dargeboten: „Cultural and Political Parameters“, „Jewishness, Race, and Politics“, „Cultural Forms“ und „Literary Case Studies“. Das Inhaltverzeichnis deutet bereits die sammelbandübliche Willkür der Themenwahl an. (Sie hält sich aber in verantwortbaren Grenzen.) Es kann verblüffen, dass der Tanz, nicht aber die Bildende Kunst, mit einem separaten Beitrag bedacht wird; diverse Eugenik- und Rassismus-Diskurse, nicht aber die Psychoanalyse samt ihrer Weiterungen bei Adler, Frankl und anderen. Gewiss ließe sich geltend machen, über Freud sei andernorts alles gesagt. Gleichwohl wird der Zufall sein Teil zur Entstehung des Bandes hinzugetan haben.

Das intellektuelle Niveau der Beiträge ist durchwegs hoch: Dies ist keine bloße Österreich-Propädeutik für anglophone Leserschaften. Primär- wie Sekundärliteratur englischer wie deutscher Sprache – von Stefan Zweig bis Gregor von Rezzori, Carl E. Schorske bis Wendelin Schmidt-Dengler – wird kompetent verarbeitet. Jener Verfremdungseffekt, der sich einstellen muss, wenn über Wien in anderer als deutscher Sprache reflektiert wird, wirkt per se schon erhellend. Auch mögen sich dem Blick ‚von außen‘ manche Zusammenhänge klarer und eindeutiger darstellen – wenn beispielsweise die Eskalationen des Februars 1934 recht unbefangen und frei von sprachpolitischen Rücksichten als „Austro-fascist putsch“ gekennzeichnet werden. Zumal die nationalsozialistischen Verstrickungen des Lands der Mozartkugeln werden mit Klarsicht zur Sprache gebracht, zwar ohne Flagellantentum, doch ohne Konzessionen und Bequemlichkeit. Dass die Vermarktung des Exportartikels ‚Wien‘ auf den Kunst- und Wissenschaftsszenen der angelsächsischen Länder, mehr en passant als systematisch, aber detailreich, zum Thema wird, ist beinahe selbstverständlich.

„Interwar Vienna“ bietet eine beachtliche Zahl auch für den deutschen und österreichischen Leser aufschlussreicher Detailinformationen. Der rabiate Antisemitismus des christlich-sozialen Milieus der 1920er-Jahre, zumal bei Ignaz Seipel, dem Bundeskanzler, wird gebührend behandelt, nicht weniger die ‚österreichische Dreyfus-Affäre‘ um Philipp Halsmann, der – angeblich – seinen Vater umgebracht hatte (1928). Die enge institutionelle Verflechtung diverser ‚Wiener Schulen‘ – etwa des Logischen Positivismus (Otto Neurath, Moritz Schlick et alii), weiters der Zwölftonmusik, namentlich Anton von Weberns – mit volkspädagogischen Projekten des sozialdemokratischen ‚Roten Wien‘ wird beispielhaft sorgfältig rekonstruiert (Edward Timms).

Auch die deutschnationalen und reaktionär-klerikalen Gegenbewegungen, diese unter Auspizien der Salzburger Festspiele und deren ‚Heiliger Allianz‘ (Hofmannsthal, Strauss, Reinhardt), finden Berücksichtigung. John Warren wiederum akzentuiert den – durch ‚1938‘ verdunkelten – Kulturbruch des Jahres 1934: Errichtung der austrofaschistischen Diktatur, Verbot der Sozialdemokratischen Partei, Zensur, ein erster Exodus kritischer Intellektueller.

Paul Weindlings Erläuterungen zu eugenischen und wohlfahrtsstaatlichen Projekten im Roten Wien wie im „schwarzen“ (christlich-sozialen respective austrofaschistischen) Österreich, „Rassenhygiene“ und „Menschenökonomie“ bieten manches Bemerkenswerte: Die weltweit wohl erste „Gesellschaft für Rassenhygiene“ wird 1905 in Berlin gegründet – von einem ehemaligen österreichisch-bosnischen ‚Kolonial‘-Beamten mit Namen Richard Thurnwald, und die Evolutionstheorie Jean-Baptiste de Lamarcks hat sich in Wien, wie Weindling „im Vorübergehen“ bemerkt, weit länger behauptet als anderswo – zu Zeiten, als die übrige Wissenschaftswelt längst Darwin ergeben war. Es sind solche decouvrierenden Trouvaillen, die Weindlings Aufsatz – und den Sammelband im Ganzen – auch für den mitteleuropäischen Leser zur aufschlussreichen Lektüre machen.

Die berechtigten Einwände bleiben peripher. So werden einige Details österreichischer Lebensart, womöglich wegen mangelnder Vertrautheit mit Wiens Dialekt, nicht akkurat wiedergegeben: „a schene Leich“ meint nicht, wie Holmes und Silverman insinuieren, die schöne Leiche („an attractive corpse“) – so weit reicht Wiens Nekrophilie nicht –, vielmehr den schönen, weil barock-pompösen, Leichenzug. Der „Wasserkopf Wien“ kann kaum mit „city with water on the brain“ übersetzt werden. Auch bleibt nicht aus, dass sich gelegentlich wohlfeile kulturwissenschaftliche Floskeln einschleichen („to rethink, to reshape, and revitalize“, „a complex tangle of polarities, discontinuities, and refigurations“). Das sprachliche Niveau mancher Beiträge darf als suboptimal charakterisiert werden – den deutschen Muttersprachler wird es kaum stören.

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, doch angesichts der ubiquitären Wien-1900-Verklärung muss es gelegentlich ausgesprochen werden: „The fall of the Habsburg Monarchy had liberated Vienna in many respects, particularly as regards civil and political rights and the opening up of possibilities for social reform. These new freedoms provided unprecedented scope for innovation – albeit for a limited time and only insofar as the economic and political pressures of the period allowed.“ „However, as this volume demonstrates, during the years 1918-1938 the Viennese responded to the opposing forces buffeting their city not with inertness but with dynamism.“ „Interwar Vienna“ wird diesem Beweiszweck alles in allem gerecht – das Buch wie die Stadt.

Titelbild

Deborah Holmes / Lisa Silverman (Hg.): Interwar Vienna. Culture between tradition and modernity.
Camden House, Rochester 2009.
302 Seiten, 54,99 EUR.
ISBN-13: 9781571134202

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