Cicerone

Rolf Hosfeld führt den Leser in „Die Geister, die er rief“ zu Marx

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es heißt, Karl Marx’ systematisches, wiewohl Fragment gebliebenes Hauptwerk, „Das Kapital“, sei jüngst in deutschen Buchhandlungen nicht mehr greifbar, weil vergriffen, gewesen: In Zeiten der globalen „Finanzkrise“ wenden sich viele Zeitgenossen Rat suchend dem „großen Alten“ (Rolf Hosfeld) zu, um – beispielsweise – den dunkel geahnten, begrifflich umso schwerer zu fassenden Gegensatz von Kapital und Arbeit, allgemeiner gesprochen: die immanenten Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durchschauen zu können.

Dass Karl Marx‘ „Kapital“ nicht jederzeit zur Verfügung stand, lässt sich gleichwohl verschmerzen. Bessere Lektüre – klarer, konziser, von Illusionen befreit – liegt bereit: Rolf Hosfelds neue Karl-Marx-Biographie „Die Geister, die er rief“. Jedem, der von links auf die Weltläufte schauen möchte, sei sie ans Herz wie Hirn gelegt, denn auf kaum mehr als 200 Seiten wird Marx’ geistige Entwicklung samt der zentralen philosophischen wie ökonomischen Überzeugungen durchschaubar gemacht. Eine wichtige Lektüre, zumal für jene, die meinen, Marx nicht nötig zu haben.

Eine Korrektur ist dennoch anzubringen: Das wohlfeil verkaufsfördernde Etikett „Biografie“ will nicht passen, denn Marx wird als Denker und publizistischer Agitator gezeigt (weit weniger als menschliches Wesen) – just wie er für die Welt bedeutend wurde. Dies ist gewiss kein Nachteil – die staunenswerte Dichte der Darstellung müsste verloren gehen, wollte Hosfeld den Anspruch, eine Lebensbeschreibung zu bieten, ernsthaft verwirklichen. (Dessen ungeachtet bietet er manche erhellenden Seitenblicke auf Marxens Charakterbild.) Wohlgemerkt: Wenn es gelingt, mit ‚human interest‘ solche Leser zu locken, denen gedankliche Anstrengung abschreckend erschiene, hat die Fehletikettierung ihr Gutes.

Marx’ Persönlichkeit spielt dort hinein, wo Biografisches philosophisch akut wird: Das Studium im linkshegelianischen Milieu Berlins der 1830er-Jahre, der tagtägliche Umgang mit protestantischen Jungtheologen, das Exil samt Revolutionswirren, zunächst in Paris, später in London. Hosfeld weist in überzeugend unforcierter Weise Marx’ Verbundenheit mit dem revolutionär gewendeten deutschen Protestantismus nach – mit Arnold Ruge, Bruno Bauer und David Friedrich Strauß: „Aus dem Bannkreis der Denkfigur einer umgekehrten Theologie würde Marx nie wieder herausfinden. Noch das Kapital des modernen Wirtschaftsprozesses wird für ihn dieser allgemeine, selbst erzeugte Demiurg sein, der sich dem Menschen als eine fremde und ihn beherrschende Gewalt gegenüberstellt.“ Seine kryptotheologischen Affinitäten sind sattsam bekannt, weil häufig beschrieben. Doch Hosfelds nüchterner, wohltuend un-polemischer Duktus ist eine Wohltat, besonders wo es sich ums Große und Ganze marxistischer Heils- und Unheilserwartungen handelt.

Zu den gedanklich dichtesten und fesselndsten Passagen zählen jene, die Marx’ Auseinandersetzung mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel darstellen. Dieser wird nicht allein mit der allzu bekannten Formel ‚vom Kopf auf die Füße‘ gestellt, sondern zum Nachteil folgender Generationen krude simplifiziert: „Vor allem konnte man die Hegel’sche Forderung nach Differenzierung [der Institutionen] nicht einfach als […] Überstülpung von logischen Kategorien auf empirische Verhältnisse abtun. Sie war in erster Linie ein Ergebnis der Erfahrungen der Französischen Revolution und der Sackgasse ihrer jakobinischen Phase der ‚absoluten Freiheit‘, deren Strukturlosigkeit für Hegel zwangsläufig in den Terror führen musste. Er hatte in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ mit der Beschreibung der Jakobinerherrschaft als ‚Tilgung aller Stände, worein das Ganze sich gliedert‘, […] als bloßer ‚Furie des Verschwindens‘ ein Kapitel Dialektik der Aufklärung verfasst […].“ Dieses Kapitel, so bemerkt Rolf Hosfeld treffend, war „in der Generation von Marx offenbar schon wieder in Vergessenheit geraten“.

Ausführlich dargestellt wird der Konflikt zwischen „Kladderadatsch-Prognosen“ von Engels und Marx, die in quasi-eschatologischer Endzeiterwartung von Weltrevolution sprechen, und der reformistischen Strömung in Deutschlands Sozialdemokratie, durch Eduard Bernstein vertreten, der wesentlich fürs Erfurter Programm von 1891 verantwortlich zeichnet: „In dem von ihm verantworteten Programmteil geht es um allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer und Frauen, direkte Gesetzgebung durch das Volk, Volkswehr statt stehender Heere, die Garantierung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, die Abschaffung aller Gesetze, die zur Benachteiligung der Frauen beitrugen, Erklärung der Religion zur Privatsache, Weltlichkeit der Schule, Unentgeltlichkeit von Unterricht und Lernmitteln, der ärztlichen Behandlung und der Rechtspflege, Richterwahl durch das Volk, Abschaffung der Todesstrafe und eine Reform des Steuerrechts. Speziell zum Schutz der Arbeiter wurde gefordert: die gesetzliche Einführung des Acht-Stunden-Tags, das Verbot der Erwerbsarbeit für Kinder, ein weitegehendes Verbot der Nachtarbeit, garantierte Mindestruhepausen, die rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern und die Sicherstellung des Koalitionsrechts für Arbeiter.“ Nicht allen dieser Forderungen ist Genüge getan – hundertzwanzig Jahre danach.

Wichtiger noch: Viele öffentliche Reaktionen auf die in Deutschland scheinbar glimpflich vorübergehende Finanzkrise muten tragisch hilflos an. Die Meinung, solcherlei Zusammenbrüche seien Ausfluss individuellen Fehlverhaltens, zumal die wohlfeil selbstgewissen Appelle wider Raffgier und Risikofreude scheinen geradezu kindlich naiv. Marx wusste es vor 150 Jahren besser: Der ‚Fehler‘ liegt im System. „Es war eben nicht der einzelne Kapitalist, auf den es Marx ankam, sondern das Kapitalverhältnis […]. Marx’ kommunistisches Argument bestand vielmehr darin, dass ein auf wirtschaftlicher Ausbeutung beruhendes System […] aus ökonomischen Gründen notwendig in unlösbare Widersprüche geraten und deshalb irgendwann einmal einen Zusammenbruch erleben würde. Er musste so argumentieren, weil seine Theorie dem eigenen Anspruch nach von den ‚Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion‘ handelte und nicht von moralischer Empörung“.

Der Kapitalismus stellt sich als schöpferischste und zerstörerischste aller Wirtschaftsordnungen dar und schafft mit staunenswerter Regelmäßigkeit Krisen. Mögen Marx‘ Prognosen, mag sein hegeltrunkener Glaube ans unausweichlich sich vollziehende Geschick der Gesellschaftsentwicklung widerlegt sein – viele seiner Befunde verdienen es, neu ins Bewusstsein gehoben zu werden, um Blickverengungen und allzu bequemem Pragmatismus in die Parade zu fahren. Mag es fürs Erste angebracht scheinen, wie Angela Merkel und Wolfgang Schäuble zuverlässig betonen, „auf Sicht zu fahren“ – gelegentlich sind grundsätzliche Erwägungen am Platze, und Marx darf dabei als Stichwortgeber nicht fehlen.

Von Deutschlands Ökonomen ist in dieser Sache keine Hilfe zu erwarten. Sie bleiben in kurioser Blickverengung neoklassischen Dogmen verpflichtet. (Peter Bofinger ist die Rolle des lächelnd geduldeten Hofnarren zugedacht.) Dass es Laien aufgegeben bleibt, die wichtigen ökonomischen Fragen zu stellen, ist traurig und ein Armutszeugnis für die wirtschaftswissenschaftliche Zunft. Dass manche Laien dieser Aufgabe vollauf gewachsen sind – mit Übersicht, ökonomischem Sachverstand und hohem sprachlichem Vermögen –, ist ein (seltener) Glücksfall. Was Marx betrifft, ist Hosfeld der denkbar beste Cicerone.

Titelbild

Rolf Hosfeld: Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie.
Piper Verlag, München 2009.
260 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783492052214

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