Kot, Blut und Klopapier – Monika Ankele wertet die in der „Sammlung Prinzhorn“ zusammengetragenen Selbstzeugnisse von Psychiatriepatientinnen aus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn früher öfter, heute immerhin seltener davon die Rede war und ist, Frauen seien das kranke Geschlecht, so zielt(e) dies nicht zuletzt auf die weibliche Psyche, der man um 1900 etwa eine besondere Neigung zur Hysterie nachsagte. Mit ebendieser und etlichen anderen Diagnosen wurden damals etliche Frauen in geschossene Anstalten eingewiesen. Alleine schon die Erfahrung, aus dem Lebenszusammenhang herausgerissen und in eine zumindest für sie totalitäre Institution hineingeschleudert worden zu sein, dürfte für nicht wenige der Frauen traumatisierend gewesen sein.

In einer nun erschienen Studie zu „Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900“ geht Monika Ankele der Frage nach, wie die Insassinnen diverser psychiatrischer Anstalten diesen „Bruch“ erlebten und wie sie dem erlittenen „Einbruch des Unvertrauten“ und den „Beschränkungen und Möglichkeiten psychiatrischer Institutionen“ mithilfe „alltägliche[r] Praktiken“ begegneten. Hierzu zieht die Autorin „Selbstzeugnisse wie Briefe, Texte, Zeichnungen oder textile Arbeiten“ heran, die von Insassinnen psychiatrischer Anstalten geschaffen wurden. Ihr Quellenfundus besteht aus den Selbstzeugnissen von 88 Frauen, die zwischen 1902 und 1920 in der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg aus verschiedenen psychiatrischen Anstalten als „Lehrsammlung“ zusammengetragen wurden und die heute als „Sammlung Prinzhorn“ bekannt sind. Von 32 Frauen, deren Werke in der Sammlung aufbewahrt werden, konnte Ankele die Krankenakten auffinden und ebenfalls auswerten.

Die Quellen zeigen, dass die Mehrzahl der Frauen auf Veranlassung von Angehörigen eingeliefert wurden. Wie die die Autorin aus den Krankenakten zitiert, wurden „‚[w]echselndes Verhalten‘, ‚bald boshaft‘, ,bald äußerst liebevoll‘, ‚unmotiviertes Lachen‘, ‚misstrauisch‘, ‚scheu‘, ‚zurückhaltend‘, ‚wirres Reden‘, ‚hypochondrisches Klagen‘, ‚Erregungszustände‘, Verfolgungsideen‘, ‚Zitteranfälle‘“ als die Internierung begründete auffällige Verhaltensweisen genannt. Die Hälfte der 32 Frauen, von denen die Krankenakten erhalten sind, starben in den Anstalten, fünf von ihnen wurden im Rahmen des nationalsozialistischen „‚Euthanasie‘-Programmes“ ermordet.

Gemeinsam ist allen 88 Frauen, dass sie als Insassinnen der Psychiatrien „einen Text, ein Ding, eine Botschaft, eine Spur hinterlassen“ haben; „etwas, das ausgewählt, weitergegeben und aufbewahrt wurde und heute noch zugänglich ist; etwas, das als Korrektiv, als Bezugspunkt, als Relation zu den von den Ärzten verfassten Krankengeschichten herangezogen werden kann.“ Die Artefakte selbst scheinen der Autorin zufolge zunächst hingegen „wenig Gemeinsames oder gar Verbindendes“ zu haben. Finden sich unter ihnen doch „Zeichnungen und Gemälde, Texte, Briefe und Notizen, Collagen, textile Arbeiten, Skulpturen, selbstgestaltete Bücher sowie Fotografien“, die aus Materialien wie „Zeitungen, Krankenaktenblätter, Klopapier, Bestell-, Beipack- und Rechnungszettel, Karton, Garne und Stoffe, Haare, Kot sowie Blut“ hergestellt wurden, ebenso wie mit Wasser-, Öl-, Aquarellfarben oder Eitempera gemalt Bilder.

Ankele zufolge führt die „Vielschichtigkeit der Quellen“ in einen „Mikrokosmos, der sich als ein ‚ermöglichendes und begrenzendes Feld von Zwängen‘ darstellte, wie dies Judith Butler […] in einem Definitionsversuch von Handlungsfähigkeit formuliert.“ So reagierten die Frauen auf die „entmächtigenden Verhältnisse“ nicht selten mit „selbstermächtigenden Praktiken“, die sich etwa in ihrer „Raumaneignung“ oder in „Formen der Selbstgestaltung mittels Kleidung und Haaren“ äußerten und die Patientinnen „als Akteurinnen, als Handelnde, Reagierende, Leidende in einem komplexen Feld begrenzender und ermöglichender Faktoren wahrnehmbar“ machen, so dass sie der Autorin zufolge „nicht länger als Projektionsfläche feministischer Repräsentations- oder Patriarchatskritik […] instrumentalisiert werden“ können, wie dies vor allem in den 1980er- und bis hinein in die 1990er-Jahre „vielfach im Umgang mit ‚den Hysterikerinnen‘ der Fall war“.

R. L.

Titelbild

Gudrun Ankele: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn.
Böhlau Verlag, Wien 2009.
306 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783205783398

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