Die philosophische Herausforderung für die Neurowissenschaften

Christine Zunke zeigt eindrucksvoll die Grenzen der neurophysiologischen Forschung

Von Henrike LerchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Henrike Lerch

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Das Thema ist nicht neu und Christine Zunke ist nicht die erste Philosophin, die sich kritisch mit den Ergebnissen und Folgerungen neurophysiologischer Untersuchungen auseinandersetzt. Und dennoch hat sie eine lesenswerte philosophische Dissertation verfasst, in der es ihr gelingt, klassische Theoreme der Willensfreiheit und des Selbstbewusstseins nicht nur gegen neue naturkausale Erklärungsmuster zu verteidigen, sondern diesen neuen Wissenschaften ihre Erkenntnisgrenzen und Erkenntnisvoraussetzungen aufzuzeigen.

Dass das Gehirn das Organ des Denkens und damit einhergehend das Organ des Bewusstseins sei, ist der Ausgangspunkt der Hirnforschung. Das Gehirn selbst zu untersuchen, seine Funktionsweise zu entschlüsseln, um das Denken und das Bewusstsein erklären zu können, ist ihr Ziel. Genau in diesem Ansatz liegt einer der wesentlichen Kritikpunkte Zunkes: Das Gehirn in dieser Weise zu betrachten und das Denken diesen Gehirnprozessen gleichzusetzen kann nur zur Folge haben, das Denken kausal zu betrachten, also eine Reduktion auf Ursache und Wirkung vorzunehmen. Freiheit müsste demnach selbst als eine Ursache ausgemacht werden, aber eine, die sich unmittelbar in der Wirkung zeigt. Eine solche Freiheit kann jedoch nicht aufgewiesen werden, was von Roth, Singer und anderen Neurowissenschaftlern als eine generelle Unfreiheit gedeutet wird. Die Argumente der Neurowissenschaftler werden von Zunke ausführlich diskutiert und sie arbeitet sukzessive den darin zu Grunde liegenden Freiheits- und Bewusstseinsbegriff heraus, um zu zeigen, dass diese Begriffe von Freiheit und Bewusstsein gar nicht die philosophischen Begriffe von Freiheit und Bewusstsein treffen können und diese philosophischen Begriffe auch nicht mit naturkausalen Erklärungsstrategien zu fassen sind.

Als Kontrastfolie dienen ihr die philosophischen Begriffe von Freiheit und Bewusstsein, wie sie bei Kant und Hegel entwickelt werden. Diesen Anspruch an philosophische Begriffsbildung verteidigt Zunke in dieser Gegenüberstellung in eindrucksvoller Weise. Sie führt ihre Gewährsmänner nämlich nicht einfach als Autoritäten ein, denen man hörig zu folgen habe, sie verliert sich auch nicht in einer Textexegese und Interpretationsdiskussion bei der man das Gefühl hat, nur noch als Experte ein Wort zu verstehen. Nein, Zunke hat die Texte soweit durchdrungen, dass sie eigenständig die Argumentationen genau dann nachzeichnet, wenn sie es für ihren eigenen Argumentationsgang benötigt. Auf diese Weise gelingt es ihr auch zu zeigen, dass die Philosophie selbst ein Methodenarsenal geschaffen hat, das Freiheit und Bewusstsein als Bedingung von wissenschaftlichem Arbeiten überhaupt erst offen legen kann und Begriffe von Freiheit und Bewusstsein plausibel macht, die weit über einen negativen Freiheitsbegriff hinaus gehen. Dienlich sind dabei unter anderen Unterscheidungen zwischen Ursache und Grund, wodurch gezeigt werden kann, dass der Mensch sich seine Handlungsgründe selbst setzt und diese Gründe eben keine naturkausalen Ursachen sind, aber dennoch das menschliche Leben gestalten.

Freiheit wird damit zur Möglichkeitsbedingung von Naturerkenntnis, aber zu einer Möglichkeitsbedingung, die selbst nicht durch naturkausale Prozesse erklärbar oder empirisch erfahrbar wird. Freiheit hat ihren Grund in sich selbst, mit empirischen Methoden sind aber nur Ursachen zu erkennen, die außerhalb des Prozesses oder ihrer Wirkung liegen. Somit ist Freiheit ein Reflexionsbegriff, der sich nicht messen lässt, weder Introspektion noch äußere Analysen vermögen einen solchen Begriff von Freiheit zu erfassen, sondern nur eine begriffliche Reflexion wird ihr gerecht. Das vermag eine an empirischen Wissenschaften orientierte Hirnforschung aber nicht zu leisten, weshalb ein solcher Begriff der Freiheit für sie nicht bewiesen werden kann, weil er empirisch nicht zu beweisen ist.

Am Ende der Arbeit zeigt Zunke, wie weitreichend das Freiheitsverständnis in unserem Rechtssystem, unserer Demokratie und Wirtschaft verankert ist. Denn unser gesamtes Rechtssystem, unsere Demokratie und Wirtschaft basieren auf einem Verständnis der Willensfreiheit als positive Freiheit der Selbstgesetzgebung. Ein Verständnis, welches Freiheit als Kausalursache begreift und in einem Wirkungsprozess zu bestimmen versucht, wird einem solchen Verständnis, welches Freiheit nur über den Ausdruck ihrer selbst in Arbeit versteht, in keiner Weise gerecht. Auch können Selbstgesetzgebung und die damit einhergehende Eigenverantwortung nicht begriffen werden, eben weil bestimmte Prozesse im Gehirn als kausale Ursache angenommen werden, die das menschliche Handeln steuern.

Die Konsequenzen, die Zunke zieht, sind klar: empirische Wissenschaft, der ganze Zweig der Neurowissenschaften, vermögen es nicht, das Bewusstsein zu untersuchen, weil sie sich ausschließlich auf neuronale Prozesse konzentrieren. Bewusstsein bestehe aber aus Inhalten, welche nur über philosophische Reflexion zum Gegenstand gemacht werden können, nicht durch externe Beobachtung. Und ähnliches gelte für den Freiheitsbegriff: „Verwirklicht wäre Freiheit erst in gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen eines jeden Vernunft sich selbst das Gesetz geben könnte und keiner bloß als Mittel zu äußeren Zwecken gebrauch würde. Diese Autonomie können die Menschen allerdings in ihren Gehirnen niemals finden – sie müssen sie als gesellschaftlichen Zustand erst politisch herstellen.“

Zunkes kritische Auseinandersetzung mit den Ergebnissen und vermeintlichen Konsequenzen empirischer Hirnforschung, – vor allem in der ersten Hälfte des Buches findet diese Auseinandersetzung statt, – endet in einer Verteidigung eines liberalen und demokratischen Freiheitsbegriffs. Diese Verteidigung eines Reflexionsbegriffs der Freiheit und der Wahrung der Einheit eines selbstbewussten Handlungssubjekts zeigt, welcher Herausforderung sich moderne Hirnforschung zu stellen hat und welche philosophischen Errungenschaften sie durch ihre Strategie der kausalen Erklärungsweisen aufgibt. Diese Verteidigung stellt eine gelungene Anwendung philosophischen Überlegens dar, welche sich den Herausforderungen gegenwärtiger Wissenschaften nicht nur bewusst ist, sondern ihnen auch mit plausiblen Erklärungsstrategien entgegen tritt und nicht zuletzt die Konsequenzen von einfachen kausalen Erklärungsmustern in allen Bereichen auszuloten vermag. Damit überschreitet die Arbeit eine rein immanente Textkritik, die sich im kritischen ersten Teil auch findet, und stellt letztlich eine Einführung in philosophisches Denken dar.

Gut zu lesen wird die Arbeit vor allem durch den sprachlichen Stil. Denn Zunke referiert und interpretiert, wie schon gesagt, nicht einfach Texte, sie betreibt auch keine Exegese, sondern löst sich von ihren Referenzautoren und reformuliert deren Kerngedanken somit frei und in einem zeitgemäßen und verständlichen Stil. Dies gilt auch für Darstellungen der zentralen neurowissenschaftliche Literatur. Wobei sie sich hier weniger auf Fachdiskussionen stützt, sondern die populärwissenschaftlich aufgearbeitete Literatur zu Grunde legt. Das ist insofern gerechtfertigt, als gerade diese Art der Literatur die Gefahr birgt, zu vereinfachen, zu polarisieren und vor allem eine breite Meinung zu bilden, welche politische und gesellschaftliche Entscheidungen trifft. Verfeinert wird dieser Stil durch gut gewählte und plausible Beispiele.

Titelbild

Christine Zunke: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit.
Akademie Verlag, München 2008.
221 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783050045016

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