Die Vermessung unserer Unsicherheit

Keith Devlin schreibt mit „Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks“ ein Buch über die Entstehung und Entwicklung der Wahrscheinlichkeitstheorie

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lässt sich die Zukunft vorhersagen? Diese scheinbar einfache Frage, die die Menschheit seit alters her interessiert, steht im Mittelpunkt des neuesten Buches des 1947 in Großbritannien geborenen Mathematikers Keith Devlin. In „The Unfinished Game. Pascal, Fermat and the Seventeenth-Century Letter That Made The World Modern“, das erstmals 2008 erschienen und seit 2009 auch in einer deutschen Übersetzung auf dem Markt ist, begibt sich der Hochschulprofessor und Autor mehrerer naturwissenschaftlicher Sachbücher wie „The Milleniums Problems. The Seven Greatest Unsolved Mathematical Puzzles of our Time“ (New York 2002) zur Klärung der obigen Frage auf eine Reise in die Historie der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Mit seiner Darstellung macht Devlin deutlich, wie mühsam die Suche oft war und wie viele Jahrhunderte es dauerte, bis diese „Ars conjectandi“ entstehen konnte, die uns heute so selbstverständlich ist und auf der ein Großteil der Errungenschaften der modernen Welt wie Versicherungs- und Kreditwesen, Risikoabschätzungen und Kosten-Nutzen-Analysen, Wetterprognosen und die Demoskopie beruhen. Doch wie ist die Wahrscheinlichkeitstheorie nun konkret entstanden?

Devlin skizziert kurz den Sachverhalt: „Im Jahr 1654 wandte sich der Chevalier de Méré, so der Adelsname des Spielers Antoine de Gombaud, mit einigen Fragen an seinen Freund Blaise Pascal. Dieser kam nach einigem Nachdenken auf eine mögliche Lösung, war sich allerdings nicht sicher, ob er wirklich den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Deswegen teilte er sie Fermat in einem Brief mit, woraus sich die bekannte Korrespondenz entspann, die – vor allem mit dem hier behandelten Brief – als eine Sternstunde in der Geschichte der Mathematik gilt.“

Bei dem „hier behandelten Brief“ geht es um denjenigen, den der französische Mathematiker, Philosoph und Autor der „Pensées sur la religion et autres sujets“, Blaise Pascal (1623-1662), datiert mit dem Datum von 24. August 1654, an seinen Landsmann, den zu seiner Zeit wohl bedeutendsten Mathematiker Pierre de Fermat (1607/8-1665), der wichtige Beiträge unter anderem zur Zahlentheorie, Variations- und Differentialrechnung leistete, geschickt hat, um ihn beim „Problem des abgebrochenen Spiels“ um Rat zu fragen.

Devlin stellt das Problem so dar: „Angenommen, zwei Spieler […] setzen gleiche Einsätze darauf, wer die meisten von fünf Runden gewinnt, bei denen je eine Münze geworfen wird. Sie beginnen das Spiel, müssen aber aufhören, bevor einer gewonnen hat. Wie teilen sie jetzt den Einsatz auf? Wenn jeder eine Runde gewonnen hat und das Spiel nach zwei Runden abgebrochen wird, müsste der Einsatz der Gerechtigkeit halber zu gleichen Teilen aufgeteilt werden. Das Gleiche gilt, wenn das Spiel nach vier Würfen endet und beide zwei Würfe gewonnen haben. Was aber geschieht, wenn das Spiel nach drei Würfen abgebrochen wird und ein Spieler mit 2 zu 1 Punkten in Führung liegt?“ Hinsichtlich dieser Vorhersage müsste die Frage für die Wissenschaft dann lauten: „Wie soll man Zukunft (oder genauer, das Spektrum der möglichen Zukunftsereignisse) richtig erfassen und in ein mathematisches Modell überführen?“

Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt darin, nachzuvollziehen, wie sich das Spiel weiterentwickelt hätte, wenn es zu Ende gespielt worden wäre. Nun zeigt aber der Briefwechsel zwischen den beiden Gelehrten, von dem sieben erhalten sind und der von Juli bis Oktober 1654 andauerte, welche große Mühe es beiden bereitet hat, darauf eine adäquate Antwort zu finden. Und es hat ihnen deshalb so viel Arbeit gemacht, weil ihnen der Begriff der Wahrscheinlichkeit gefehlt hat, mit dessen Entdeckung sie augenblicklich befasst waren.

Devlin veranschaulicht in einer Exkursion in die Wissenschaftsgeschichte, dass die Frage nach der Vorhersage der Zukunft oder, um im Bild zu bleiben, die nach der „Berechnung des Glücks“ beim Würfelspiel keine abgehobene Beschäftigung elitärer Kreise darstellt, sondern dass die Menschen sich schon seit frühester Zeit dafür interessiert hätten, insbesondere diejenigen unter ihnen, die bestrebt gewesen wären, dem Glück durch Betrug und Täuschung wie etwa durch Zinken nachzuhelfen, eben da sich die Gewinnchancen noch nicht berechnen ließen. Auch wenn es bereits davor, hauptsächlich im Italien der Renaissance, Gelehrte wie Luca Pacioli (um 1445-um 1510) oder Girolamo Cardano (1501-1576) gegeben habe, die wichtige Erkenntnisse in diesem Bereich der Mathematik zutage gefördert hätten – bis zum Briefwechsel der beiden Franzosen Mitte des 17. Jahrhunderts habe aber dennoch, aufgrund der noch immer geringen Kenntnisse in der Ars conjectandi der Glaube vorgeherrscht, dass die Zukunft allein in Gottes Hand liege.

Während sich der Autor von „Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks“ in der ersten Hälfte seines Buches damit beschäftigt, die Überlegungen der beiden Gelehrten auch mit Hilfe mathematischer Formeln darzustellen, bei denen jedoch aufgrund der „fachlichen Details“ mancher dieser Seiten zu überfliegen seien, zeigt er in der zweiten Hälfte, welche vielfältigen Auswirkungen die Resultate ihrer Zusammenarbeit gehabt haben. Dabei macht Devlin darauf aufmerksam, dass die Entstehung der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht zufällig zusammenfällt mit der der Infinitesimalrechnung, die Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Isaac Newton (1642/43-1727) unabhängig voneinander entwickelten, um Differential- und Integralrechnung zu betreiben. Dieser zeitliche Zusammenfall ist für den britischen Mathematiker denn auch Ausdruck eines grundlegenden Wandels im Verständnis der Welt, der angestoßen von den Entdeckungen zu Beginn der Frühen Neuzeit und der damit einhergehenden Globalisierung und Kapitalisierung den Prozess der Säkularisierung – und also auch den der Rationalisierung der Wissenschaften – weiter beschleunigt.

Die Wahrscheinlichkeitstheorie, die Pascal und Fermat gemeinsam entwickeln, nimmt in der Folge Einfluss auf unterschiedliche Lebensbereiche: Sie verlässt die Spielsalons und findet Eingang in das Alltagsleben der Menschen, so durch die Berechnung von Sterbetafeln, die der Londoner Major John Graunt (1620-1674) im Jahre 1662 erstellt, und aus der dann die moderne Statistik und Demografie hervorgehen. Der Reihe zählt Devlin die Verdienste weiterer Gelehrter wie Christian Huygens (1629-1695), Jakob Bernoulli (1655-1705), seines Neffen Nikolaus Bernoulli (1687-1759), Edmond Halley (1656-1742) oder Carl Friedrich Gauß (1777-1855) auf.

Ihre Arbeiten förderten die Entstehung und Entwicklung von Lebenserwartungstabellen und -versicherungen, die Grundlagen der Meinungsforschung und der Prognosen für den modernen Finanzmarkt. Sie fanden später Verwendung in der Rechtsprechung, konkret bei der Analyse und Erstellung von DNA-Profilen, aber auch im Risikomanagement, und zwar bei der „Vermessung unserer Unsicherheit“, das heißt in der genaueren Einschätzung beispielsweise von Terroranschlägen und der Entwicklung wirksamer Vorbeugemaßnahmen dagegen. Zum besseren Verständnis veranschaulicht der britische Wissenschaftsjournalist diese Entwicklungen, indem er jeweils kleine mathematische Rechenaufgaben beziehungsweise Fallbeispiele dazu vorführt und löst. So erleichtern sie – und das ist letztlich das Verdienst von Devlins anspruchsvollem, aber dennoch gut verständlichem Buch – den Zugang zu einem komplexen Bereich der Mathematik, ohne den das moderne Leben zumindest in der Form, wie wir es kennen, nicht mehr vorstellbar ist.

Titelbild

Keith Devlin: Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks. Eine Reise in die Geschichte der Mathematik.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
204 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783406590993

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