Schillerndes Porträt eines unkonventionellen Frauenlebens

Judith Koelmeijers Biografie „Das Leben der Anna Boom“ schildert die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel eines leidenschaftlichen Frauenlebens

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Liebe wegen reist die junge Anna Boom 1942 nach Budapest. Doch statt das romantische Glück zu finden, landet die 22jährige mitten in den Kriegswirren. Durch ihre Freundin Dóra kommt die an sich unpolitische Holländerin mit dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg in Kontakt. Unerschrocken arbeitet die einst wohlbehütete Bürgertochter in seiner Organisation und hilft dabei mit, ungarische Juden mit gefälschten Papieren und Nahrung zu versorgen. Ihre Deutschkenntnisse und ihre Schönheit machen aus ihr den perfekten Boten. Sie arbeitet in einem unterirdischen Krankenhaus. Als die Russen die Stadt besetzen, erlebt Anna Boom Traumatisches, über das sie erst Jahrzehnte später reden kann.

Für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Anna Boom führte die niederländische Journalistin und Sachbuchautorin Judith Koelemeijer lange Interviews mit der inzwischen 89-Jährigen. Sie begleitete die agile, immer noch eher rastlose Kosmopolitin an die zentralen Schauplätze ihres Lebens nach Wien, Budapest und Meran. Sie ließ sich ihre Erinnerungen berichten, um sie dann zu verifizieren und als Biografie zu ordnen. Anna Boom gab der Autorin bei der Interpretation und der Darstellung ihrer Erlebnisse freie Hand. Nicht zuletzt dadurch entstand eine komplexe Erzählung und packende Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte. Originalbriefe aus dem privaten Archiv Anna Booms vervollständigen das sorgfältig ausgearbeitete Porträt und geben einen intensiven Einblick in die Vergangenheit und den reichhaltigen Erfahrungsschatz der mutigen Frau.

Sensibel zeichnet Judith Koelemeijer nach, wie Anna Boom zwischen wechselnden Lieb- und Freundschaften trotzdem ein bemerkenswert stabiles soziales Netz webt, das sie durch die unruhige Zeit trägt. So besorgt ihr ein französischer „Beauftragter“ Ausreisepapiere und ein Auto. Ein kriegsverwundeter Leutnant beschafft ihr eine Stelle. Ein General rettet der Engagierten in einem besetzten Hotel das Leben, während alle anderen dort untergekommenen Flüchtlinge erschossen werden. Einer ihrer gefährlichsten Aufträge war es, Judentransporte, die sogenannten „Todesmärsche“ heimlich zu filmen, um dem Ausland Beweise für die Gräueltaten zu liefern. „Es war furchtbar, erinnert sie sich, „eine Frau habe ich gesehen, die war in Erwartung, die hatte einen Bauch gehabt und konnte nicht mehr. Und da hat der Soldat das Bajonett einfach in ihren Bauch gesteckt.“

Spannend liest sich die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel dieses außergewöhnlichen und aufregenden Frauenlebens, das sich in den historischen Wirren eindrucksvoll behauptet. Anna Booms freizügige, emanzipierte Art im Umgang mit Männern erinnert streckenweise an den kompromisslosen aufsehenerregenden Roman „Die Herren“ der gradlinigen Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff. Im Alter kommt die Unkonventionelle dann jedoch noch zu harmonischer Ruhe. Aber das bedeutet keineswegs, dass die äußerst Selbstbewusste ihre Unabhängigkeit opfert. Sie trifft nach mehreren Beziehungen den richtigen Partner, einen Mann, der sie loslässt und damit halten kann. Durch sein Interesse an ihrer Vergangenheit findet sie einen Weg ihre Kriegserinnerungen aufzuarbeiten, die sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verdrängt hatte. Und so kann die Wandernde zwischen Ländern und Kulturen, die heute in Portugal lebt, auch ihren Frieden machen mit dem verheirateten Mann, der sie 1942 nach Budapest reisen ließ.

Titelbild

Judith Koelemeijer: Das Leben der Anna Boom. Die Geschichte einer mutigen Frau.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Anna Carstens.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009.
280 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421044006

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