Der Mensch glaubt nicht freiwillig, er glaubt aus Not

Über Martin Walsers Novelle „Mein Jenseits“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glauben oder Wissen? Was ist wichtiger? Das ist für Augustin Feinlein, den alternden Protagonisten in Martin Walsers Novelle „Mein Jenseits“ am Ende keine Frage mehr, aber bis dahin grübelt er über viele Lebensprobleme. Er tut dies so ausführlich, wie es die Walser-Figuren stets zu tun pflegen. Und es geht wie so oft bei Walser um Liebes- und Identitätsprobleme, berufliche Ängste und damit auch um Beziehungsprobleme in bürgerlichen Kreisen.

Augustin Feinlein hat als junger Mann die hochbegabte Studentin Eva-Maria Gansleben in einem Lateinkurs kennen- und lieben gelernt. Man galt als verlobt. Leider nimmt er sie anlässlich einer Einladung zum Grafen Wigolfing mit, der sie dann drei Wochen später heiratet. Der Graf kommt kurz darauf bei einer Bergtour tragisch ums Leben. Doch nun heiratet die Angebetete nicht Feinlein, sondern den 18 Jahre jüngeren Dr. Bruderhofer. Dieser ist Oberarzt an der Klinik, an der Prof. Dr. Feinlein Chef ist und wartet darauf, sein Nachfolger zu werden. Er ist damit sein großer Widersacher. Augustin Feinlein leidet offensichtlich, fühlt sich als Versager und Verlierer. Aber immer kommt von den vielen Reisen Eva Marias eine Karte, auf der sie mit „In Liebe“ oder „ich werde dich immer lieben“ unterschreibt. Nun ist er mindestens 63 Jahre alt, denn in seinem 63. Jahr hat Feinlein aufgehört zu zählen, monologisiert über seine momentane Befindlichkeit, was natürlich nicht ohne Abschweifungen und hochfahrende, manchmal ironische, aber immer empfindungsreiche Gedankenüberschüsse geht. Bereits das vorangestellte Motto des Mystikers Jakob Böhme und der Titel des Romans verweisen sowohl auf die religiöse Grundierung des Themas als auch auf die Eigensinnigkeit Feinleins. Im Mittelpunkt steht allerdings nicht die Religion im herkömmlichen, kirchlichen Sinne, sondern der persönliche Glaube, der dem Menschen hilft, auch wenn die Vernunft ihm eigentlich sagt, dass das Objekt oder die Tatsache, an die man glauben möchte, nicht existiert. Es geht auch nicht um die Wahrheit des Religiösen oder gar um Gott, sondern letztlich um etwas Profanes.

„Aber das Glauben die Welt schöner macht als das Wissen, stimmt doch.“ Das ist das Credo Feinleins. Schon nach wenigen Sätzen und nach solchen Aphorismen wird klar, dass man es wieder mit einer dieser redseligen und treffsicher formulierenden, aber auch leidenden Walser-Figuren zu tun hat, die von der Welt mehr verlangen, als diese zu geben bereit ist. Zwar ist der Protagonist noch Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses, aber sein Nachfolger, Dr. Bruderhofer, steht schon bereit, ihn abzulösen. Diesem Dr. Bruderhofer geht es um die Karriere, Feinlein um sein Jenseits. Heimlich schreibt Feinlein an einem Buch über Reliquien. Das liegt sozusagen in der Familie, denn ein Vorfahr, Eusebius Feinlein, war der letzte Abt in Scherblingen und schrieb über „Die Reliquienverehrung“.

Kann man dieses Hobby noch verstehen, so ist aber Feinleins Wunsch, Nachfolger des aus Altersgründen in den Ruhestand gehenden Messners der örtlichen Stiftskirche zu werden, wohl eher seiner Alterskauzigkeit und Verschrobenheit zuzuschreiben. Und nicht nur der. Bei einem Rombesuch überfällt Feinlein der Satz, „Rom ist mein Jenseits“. Und beim Betrachten von Caravaggios Madonnenbild „Madonna del Pellegrini“ stellt er fest: „Das Leben muss schön sein, sonst kannst du es gleich vergessen“. Aber auch Eva Marias notorische Formulierung „In Liebe“ sieht er als sein persönliches Jenseits. So quält er sich und kommt zu der Erkenntnis, dass das Jenseits ein Wunsch sei und man glaube „nicht freiwillig, man glaubt aus Not“. Und dann seine zentrale Erkenntnis: „Wir glauben auch immer mehr, als wir wissen.“ Denn ob ihn Eva Maria wirklich liebt oder ob die Reliquien echt sind, weiß er nicht und kann es auch nicht wissen. Der Glaube daran ist allein entscheidend. Diese Erkenntnis hatte bereits sein Vorfahre Eusebius.

Dann der Wendepunkt zum bitteren Ende: Auf dem Klinikball tanzt Bruderhofer mit Feinleins Sekretärin so hinreißend, dass Feinlein, der vorher dem Rotwein deutlich zugesprochen hatte, sich zu einem Heiratsantrag an sie hinreißen lässt. Seine letzte Vertraute möchte er nicht auch noch an seinen Widersacher verlieren und verliert sie natürlich gerade dadurch. So kommt es dann zu seiner verzweifelten Tat. Feinlein stiehlt die Heilig-Blut-Reliquie aus der Kirche. Als der Diebstahl bemerkt und die Monstranz bei ihm gefunden wird, wird er in seine eigene Klinik eingewiesen. Weder die Kirche noch die Klinik haben ein Interesse an der Schuldfähigkeit Feinleins. Die Geschichte endet mit Feinleins Botschaft: „BIS BALD. IN LIEBE. A.F.“

Mit diesen Ausführungen zu Religion und Glauben sowie dem Liebesthema und den beruflichen Ängsten Feinleins ist Walser wieder zu großer Erzählkunst aufgelaufen. Schon die Namensgebungen sind ironisch und anspielungsreich: Eva Maria, Augustin, Bruderhofer, Letzlingen und Scherblingen heißen die Figuren. Darüber hinaus ist die Novelle ein Loblied auf die Verschrobenheit und Kauzigkeit des Alters und auf das Unerklärliche. Das Wissen und das Rationale ist nicht alles, wie Feinlein feststellt, und wir glauben wohl wirklich mehr, als wir wissen. Walser erfindet einen Schelm, einen Helden, der weiß, dass Glaube Selbstbetrug sein kann und sich trotzdem konsequent genau dafür entscheidet. Es ist ein heiteres Buch, in dem es gleichzeitig um eine existentielle Erfahrung geht. Mehr kann man von einem Prosatext nicht erwarten. Das alles macht neugierig auf Walsers Roman „Muttersohn“, der bereits für das nächste Jahr angekündigt wird.

Titelbild

Martin Walser: Mein Jenseits. Novelle.
Berlin University Press, Berlin 2010.
119 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783940432773

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