Hamlets Blick über Yoricks Schädel
Über die Neuausgabe von Peter Altenbergs „Buch der Bücher“ und die Dokumentation der „Selbsterfindung eines Dichters“
Von André Schwarz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEr war ein Meister der kleinen Form, der Skizze und des Aphorismus. Die Rede ist von Peter Altenberg, einen der populärsten Dichter „Jung Wiens“. Zwar ist er nie in einem solchen Maße in Vergessenheit geraten wie ein anderer, höchst bekannter Schriftsteller der Zeit, Felix Salten, von dem die Nachwelt lediglich „Bambi“ und die „Josefine Mutzenbacher“ kennt, doch waren die Werke Altenbergs in den vergangenen Jahren ebenfalls nur schwer erhältlich. Neben diversen, längst vergriffenen Einzelausgaben existierte lediglich die unabgeschlossene, ursprünglich auf fünf Bände angelegte Werkedition des Löcker-Verlag beziehungsweise S. Fischer Verlags aus den späten 1980er-Jahren, die bereits nach zwei erschienenen Bänden eingestellt wurde. Der Wallstein Verlag hat nun den mutigen Schritt gewagt und eine ganz spezielle Ausgabe neu aufgelegt, mit der keiner mehr gerechnet hatte. Es handelt sich bei der dreibändigen Edition um eine, die ursprünglich niemand geringeres als Karl Kraus zusammengestellt hatte.
Nur konnte diese Ausgabe nie in der von Kraus beabsichtigten Form erscheinen. Der Verlag veranlasste eine umfangreiche Kürzung, von den drei projektierten Bänden blieb nur ein um die Hälfte gekürzter Torso übrig. 1932 erschien diese verstümmelte Anthologie erstmals im Verlag Anton Schroll in Wien. Theodor W. Adorno schrieb in seiner Rezension in der „Frankfurter Zeitung“ gleichwohl begeistert, sie würde „Altenbergs Prosa mit der tiefsinningen Zärtlichkeit des Tyrannen“ streifen, die Anthologie entspräche „Hamlets Blick über Yoricks Schädel“. Diese Ausgabe erlebte mehreren Auflagen, etwa im Zürcher Atlantis Verlag in den 1960er-Jahren und in einer Faksimile-Fassung des Insel Verlags in den späten 1990er-Jahren. Doch die Ursprungsfassung Kraus’ blieb unpubliziert.
Der Göttinger Wallstein Verlag hat es im vergangenen Jahr, pünktlich zum 150. Geburtstag Altenbergs, geschafft, die von Kraus intendierte dreibändige Fassung anhand von Arbeitsexemplaren und umfangreichen Archiv- und Forschungsbemühungen zu rekonstruieren, wie der Herausgeber Rainer Gerlach im Anmerkungsteil darlegt. Verfolgt der Leser die Auswahl der Werke aufmerksam, so wird klar, dass Kraus und sein Mitstreiter Franz Glück, einst Lektor bei Anton Schroll, weit mehr geleistet haben als nur eine Anthologie zusammenzustellen. Es gab zahlreiche Kürzungen, Umstellungen der Reihenfolge und auch nicht unbeträchtliche stilistische Eingriffe, die aber dem Werk nichts anhaben konnten, sondern dieses im Wortsinne zu einem „Buch der Bücher“, einem würdigen „Best of“ des Dichters machen. So erscheinen viele der Texte Altenbergs in der Kraus’schen Fassung brillanter, treffender und pointierter als sie in der ursprünglichen Veröffentlichung wirkten. Aber auch einige Peinlichkeiten seines Freundes wurden von Kraus verborgen, seien es seine patriotischen Merkwürdigkeiten oder die sich mit zunehmendem Alter immer mehr bemerkbar machenden esoterischen Diätik-Spinnereien.
So entstand mit dem „Buch der Bücher“ eine beeindruckende Sammlung von Miniaturen aus der Welt des Alltags und der Kultur, in denen der Autor dem ausgelassenen Treiben der Kinder auf dem Spielplatz mit einer ebensolchen Inbrunst folgen konnte wie einer Dichterlesung. Dabei ist Altenberg nicht nur der Schwärmer, der in blumigen Bildern den Sonnenuntergängen im Prater nachschaut, sondern auch ebenso oft ein scharfsinniger und bisweilen polemischer Beobachter seines Umfelds – er bewahrt dabei aber immer seinen Sinn für die „Deklassierten, für die Nervösen, die Überforderten und die schon fast Halbverwirrten“, wie Wilhelm Genazino in seinem lesenswerten Essay zur Ausgabe betont.
Der Anhang ist erfreulich umfangreich, neben den nützlichen und kenntnisreichen Anmerkungen finden sich auch zwei ausführliche Abrisse Rainer Gerlachs sowohl zur Editionsgeschichte der vorliegenden Ausgabe als auch zur „Geburt des Schriftstellers Peter Altenberg aus dem Geist des Kaffeehauses“. Eine Lebenstafel und eine kleine Auswahlbibliografie runden das „Buch der Bücher ab“.
Wer sich näher mit Altenberg beschäftigt, kann sich nicht nur über die Neuedition der vollständigen Kraus’schen Werkanthologie freuen, sondern auch auf die ebenfalls bei Wallstein erschienene Ausgabe der Briefe an und von Altenberg. „Die Selbsterfindung eines Dichters“, möchte der Herausgeber Leo A. Lensing mit seiner Sammlung nachzeichnen – und geht sogar noch ein Stück darüber hinaus. Denn man erfährt nicht nur, wie aus dem dandyhaften Bohemien Richard Engländer der Schriftsteller Peter Altenberg wird, sondern auch, dass Altenbergs Selbststilisierung keineswegs so gefestigt war, wie dies allgemein vermutet wird. Immer wieder zeigt sich, dass die vorgebliche Spontanität das Ergebnis eines wechselvollen Prozesses ist, die Texte werden nicht einfach so niedergeschrieben, Altenberg reagiert sehr wohl auf Kritik, auf Anregungen und Verbesserungsvorschläge, die ihm von Freunden nahegelegt werden. „Ganz frei und ohne Bedenken“ schreibt auch er nicht, so oft er das gegenüber Schnitzler auch behaupten mag.
Der Band enthält neben den Briefen, die den Zeitraum von 1892-1896 abdecken, auch umfangreiche Dokumente zur Rezeption Altenbergs, einige seiner Kritiken und andere Veröffentlichungen. „Diese Stimme haben wir noch nie vernommen; hier spricht jemand, den wir nicht mehr vergessen können“, schreibt Hermann Bahr etwa in seiner Rezension von „Wie ich es sehe“ im Mai 1896, und unterstreicht damit die immense Wirkung, die die Prosaminiaturen auf das zeitgenössische Publikum hatten. Schnitzler bewundert in seinem Tagebuch Altenbergs „Sinn fürs Elegante“ und beschreibt den Dichter als „subtile[n], zartnervige[n] Sentimentsmensch[en]“, der „diese schöne Welt der stillen, sanften und ahnungsvollen Menschen vor uns hinzaubert“. Lensings Zusammenstellung ergänzt dabei die Textedition – und Gerlachs Essay zur Genese des Dichters – um einige weitere Erkenntnisse, die nicht nur für den Altenberg-Forscher, sondern auch für den interessierten Laien von einigem Interesse sein dürften.
|
||||