Im Griff der Pleonexie
Wolfgang Kerstings Einführung in die Philosophie und Wirkungen von Thomas Hobbes
Von Galina Hristeva
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFür Thomas Hobbes sind die politischen und historischen Schriften der Griechen und Römer „mit dem Biß eines tollwütigen Hundes zu vergleichen“ („Leviathan“). Ein auf den ersten Blick schockierender Vergleich, den Wolfgang Kersting in seinem Buch „Thomas Hobbes zur Einführung“ überzeugend mit Hobbes’ Bruch mit dem klassischen aristotelischen Paradigma der politischen Philosophie erklärt.
Die Darstellung der Grundpositionen des politischen Aristotelismus ist vorbildlich, vor diesem Hintergrund gelingt es Kersting dann, Hobbes’ Ideen nicht als bloßen Reflex auf die Probleme und Unzulänglichkeiten der klassischen politischen Philosophie, sondern als ein revolutionäres Programm und als Paradigmenwechsel darzustellen und Hobbes zum ersten genuin modernen Staatstheoretiker zu erheben. Die Ausarbeitung des Kontrasts zwischen dem politischen Aristotelismus und der Theorie Hobbes’ gehört zu den Stärken des Buches – auch wenn dieser Kontrast in der von Kersting präsentierten Schärfe den Blick für eventuelle Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten der beiden politischen Philosophien versperrt.
Eine Frage, die Aristoteles und Hobbes verbindet, ist zum Beispiel ihr problematisches Verhältnis zu Freiheit und Gleichheit, welches aber in Kerstings Lesart, was Hobbes anbelangt, kein Unbehagen hervorruft und auch einen Teil des großen Gegensatzes zwischen Aristoteles und Hobbes bildet. Zu überlegen wäre auch, inwiefern hier trotz der tatsächlich gravierenden Unterschiede zwischen Hobbes und Aristoteles Hobbes’ revolutionäres Selbstverständnis (Kersting vermerkt immerhin, dass sich Hobbes als „Harvey der Lehre vom politischen Körper und seinen Bewegungen“ betrachtet) die Meinungen geprägt hat. An einigen Stellen schränkt Kersting nachträglich die von ihm zuvor erschaffene strikte Dichotomie ein, wie beim Umgang mit der „Ethik der Alten“, deren Tradition sich Hobbes nicht ganz habe entziehen können.
Machiavelli wiederum wird in Kerstings Buch nur kursorisch erörtert. Die als Frage formulierte Überschrift des Unterkapitels „Machiavelli – ein Vorläufer von Thomas Hobbes?“ zu Beginn des Buches wird nicht eindeutig beantwortet, so dass eine Ambivalenz gegenüber dem Vorläuferstatus Machiavellis im Raum stehen bleibt. Bedenklich ist auch das Argument, Machiavelli sei kein Philosoph, „sondern ein politischer Schriftsteller“, mit dem Machiavelli zu einer unreifen Vorstufe Hobbes’ herabgesetzt wird. Erst später im Buch erfolgt eine deutlichere Präzisierung: Machiavelli sei ein Pragmatiker, Hobbes ein Systematiker. Wenn schon auf den revolutionären Rang von Hobbes so viel Wert gelegt wird, hätte die Perspektive „Hobbes als Zerstörer“ (des Aristotelismus und des stoisch-christlichen Naturrechts) mehr Aufmerksamkeit verdient, während Kersting im weiteren Verlauf des Buches den Schwerpunkt auf das konstruktive Moment legt, wenn er Hobbes’ Programm als „konstruktive[n] Gegenentwurf“ bezeichnet und Hobbes als Begründer, „Erfinder“ und „Gründungsvater“ charakterisiert.
Bei der Besprechung Machiavellis betont Kersting, dass Machiavellis politisches Denken ein Reflex der „politischen und ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit“ mit ihren „krisenhaften Zuständen“ sei. Hobbes’ Theorieprogramm hingegen wird in keine solche Abhängigkeit von Ökonomie und Politik gebracht. Obwohl Kersting hervorhebt, dass realgeschichtliche Entwicklungsprozesse eine große Rolle bei Paradigmenwechseln spielen, werden diese Prozesse an keiner Stelle konkret konturiert, sondern nur äußerst weitmaschig besprochen: „zunehmend verbürgerlichende Sozialwelt“, „expandierende ökonomische, soziale und politische Modernisierungsprozesse“, „Schatten des konfessionellen Bürgerkriegs“. Es entsteht der Eindruck, Kersting greife sogar auf diese wenigen Angaben widerwillig und nur deshalb zurück, weil ihm die Profilierung von Hobbes als moderner Denker so wichtig ist. Das geschichtliche Umfeld, in dem Hobbes’ epochales Werk entsteht und ohne welches Kerstings „geistesgeschichtlicher Überblick“ nicht befriedigen kann, fehlt ganz. Hier folgt er Hobbes selbst, der sich bekanntlich – in einem hochexplosiven historischen und politischen Klima theoretisierend – vom geschichtlichen Kontext distanziert und universelle Aussagen anstrebt. Biografische Informationen über Hobbes werden ausgelagert und in einer Zeittafel am Ende des Buches zusammengefasst. Sie hätten jedoch dem Leser mehr Orientierung verschafft und Hobbes in den Horizont seiner Zeit eingegliedert, wenn sie im Haupttext und im Rahmen der Darstellung einen Platz gefunden hätten. Man erfährt also viel über Hobbes’ revolutionäre Rolle (mit der oben genannten Einschränkung allerdings, dass der Aspekt der ,Zerstörung‘ zu verstärken ist), aber wenig darüber, warum eine solche Rolle notwendig war. Angesichts von radikalen Behauptungen wie derjenigen von Leo Strauss vom „Koboldhaften“ in Hobbes’ Wesen wären einige Hinweise auf seinen Charakter und seine Persönlichkeit auch legitim gewesen. Außerdem fehlen in Kerstings Buch Hinweise auf die zahlreichen Kontroversen, an denen Hobbes beteiligt war, sowie Andeutungen auf die polemische Ebene seiner Theorie und Schriften.
Unbefriedigend bleibt darüber hinaus die Kapitulation des Autors vor einer Interpretation der „mythischen Abgründigkeit“ im Leviathan-Symbol. Dass es bisher kaum überzeugende Interpretationen dieses Titelbildes gibt, ist bekannt. Der Verzicht des Autors auf einen solchen Versuch oder wenigstens auf die referierende Wiedergabe einiger solcher Interpretationsbemühungen ist jedoch störend. So erwächst Kerstings Buch aus diesem Interpretationsdefizit und verurteilt sich selbst zu einem wenig anspruchsvollen Programm: „Daher bleibt nur der übliche Weg, sich einer philosophischen Theorie zu nähern, der Weg des mitdenkenden Nachzeichnens ihrer zentralen Argumentationslinien und der Analyse und Kritik ihrer wichtigen Thesen und Argumente“.
Bei diesem „Nachzeichnen“ sind die kommentierenden Hinweise auf Forschungspositionen und auf den Stand und die Probleme der Hobbes-Forschung ebenfalls spärlich, sie hätten den Text jedoch beträchtlich aufgewertet. Nur bei der Auseinandersetzung mit dem „geradezu vulgärmarxistisch“ argumentierenden Macpherson verlässt Kersting seine Position der Abstinenz und greift die „besitzindividualistische Interpretationsrichtung“ Macphersons mit ungewohnter Schärfe an. Kerstings Ziel ist es, Hobbes’ Lehre aus der engen Perspektive Macphersons, die Hobbes’ Programm an den Bourgeois und Eigentümer koppelt, zu befreien und mit dem „moderne[n], autonome[n], bindungslose[n] Individuum“ zu verknüpfen. Es liegt aber auf der Hand, dass es sich auch hier um keine strikten Gegensätze handeln kann, wie das von Kersting suggeriert wird.
Bedauernswert ist auch, dass diese wissenschaftlich doch sehr fundierte Darstellung (obwohl es ,nur‘ eine Einführung ist) mit einer so unausgeglichenen Gliederung aufwartet: so erscheint ein Unterkapitel über „das Titelbild des Leviathans“ bereits in der Einleitung statt im Kapitel „Die Philosophie des Thomas Hobbes“, wo es besser aufgehoben wäre. Insgesamt ist die Gliederung sehr schematisch und einfallslos: I. Einleitung, II. Die Philosophie des Thomas Hobbes und III. Hobbes’ Wirkungen. Dabei umfasst Kapitel III nur knapp vier Seiten, obwohl der Autor im Laufe des Buches zweimal die bevorstehende Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte ankündigt. Im viel zu umfangreichen und ausufernden Kapitel II handelt Kersting innerhalb von mehreren Unterkapiteln zahlreiche Bereiche ab wie etwa Hobbes’ Erkenntnislehre, Anthropologie und politische Philosophie. Trotzdem kommen aber für Hobbes charakteristische Aspekte zu kurz, wie zum Beispiel seine Beschäftigung mit Mathematik und Religion (Kersting erfasst letzteren Aspekt nur in Bezug auf den Staat). Hobbes’ ästhetische Theorie (etwa seine sehr einflussreiche Theorie des Komischen) wäre auch der Erwähnung wert gewesen. Sie hätte Hobbes’ Vielseitigkeit noch mehr hervorgehoben und hätte für eine bessere Entsprechung zwischen Titel und Inhalt von Kerstings Buch gesorgt. Kersting zieht nur wenige Werke Hobbes’ heran: Hobbes’ zweites Meisterwerk „Behemoth“ (1683) und ein weiterer wichtiger Texte wie „A Dialogue Between a Philosopher and a Student of the Common Laws of England“ (1681) werden stark vernachlässigt. Hinweise auf Inkohärenzen und Änderungen in Hobbes’ Ansichten und Theorie im Laufe der Zeit sind äußerst spärlich – ein Umstand, der allerdings auch aus der systematischen Darstellungsform resultiert, für die sich Kersting entschieden hat.
Unbeachtet bleiben noch Hobbes’ Autobiografie, seine publizistische Tätigkeit und überhaupt seine schriftstellerischen Facetten, zum Beispiel die überaus interessante und für die Argumentation wichtige Rhetorik in „Leviathan“. Von der Komplexität und Vielschichtigkeit des „Leviathan“ bekommt der Leser trotz der Konzentration auf dieses Buch nicht viel mit, nur Kern- und Zentralideen werden ihm vorgestellt. Was die Darstellungsform des „Leviathan“ anbetrifft, beschränkt sich Kersting nur auf Prädikate wie „großartige Ouvertüre“ im „Leviathan“ und fügt eine eigene beeindruckende Beschreibung des neuen Menschenbildes hinzu („Zwischen den Sternen des Hobbesschen Himmels hängen keine ewigen unveränderlichen Naturrechtsprinzipien mehr […]“), ohne aber auf die Darstellungsmittel und Verfahren des Autors wenigstens ansatzweise einzugehen. Möglich und wünschenswert wären außerdem Überlegungen besonders über die Funktion der dialogischen Form in manchen Texten von Hobbes oder über die Verfahren, mit denen Hobbes die Entstehungsgeschichte des Staates „erzählt“, wie Kersting richtig vermerkt. Die bei der Ausschaltung der Behauptungen Macphersons ins Spiel gebrachte „kreative Phantasie“ Hobbes’ bleibt ohne solche Ausführungen nur ein Mittel der anti-macphersonschen Polemik Kerstings.
Kerstings Vorliebe für Hobbes ist trotz seiner durchgehend streng wissenschaftlichen Diktion überall spürbar, so dass die angekündigte kritische Auseinandersetzung mit ihm oft an Prägnanz verliert und die Bevorzugung Hobbes’ auf Kosten anderer Denker stellenweise irritierend ist. Genannt werden hier nur wenige Namen wie Locke und Montesquieu. Bei der Besprechung der Gewalteinteilungskonzeption Montesquieus tritt Kersting in die Rolle eines Verteidigers von Hobbes und antizipiert und inszeniert Hobbes‘ Reaktion auf die Positionen des jüngeren Montesquieu: „Gegen diese Konzeption würde Hobbes einerseits sein wissenschaftliches Philosophiekonzept und andererseits seinen bürgerkriegserfahrenen Realismus setzen“.
Die Homage an Hobbes schlägt sich in Prädikaten nieder wie „Ahnherr des modernen Liberalismus“ (in Analogie zu Carl Ludwig von Hallers Bezeichnung von Hobbes als „Ahnherr aller Jakobiner“) oder dem „ingeniösen Leviathan“. Ein weiteres Beispiel für die Hochschätzung Hobbes’, die sich auch auf lexikalischer und syntaktischer Ebene in einer etwas bizarren stilistischen Form manifestiert, ist der Satz: „[…] bezeugen eine außergewöhnliche konstruktive Begabung, die eine stupende intellektuelle Phantasie mit einer wirklichkeitsaufmerksamen und veränderungssensiblen politischen Wahrnehmung verknüpft“. Kerstings Stimme vermischt sich mit der von Hobbes bei der Konzeptualisierung des Menschen als ein Machtwesen, aber ein „bedürftiges“ und „providentielles“. Bei der Frage nach der individualistischen und kontraktualistischen Vernunft pflichtet er Hobbes ebenfalls bei und etabliert – hier sogar in der Wir-Form – „unsere“ Abhängigkeit von Hobbes: wir können immer noch nach seinem „Alphabet“ „buchstabieren“.
Erweitert wurde der Text bereits in der zweiten Auflage durch Ausführungen über die kontraktualistische Begründung normativer Verbindlichkeit bei Hobbes. Die Betonung des kontraktualistischen Elements hat zum Ziel, die liberalistische Lesart zu stärken, sie stützt und entschärft aber zugleich die tragende Säule der Hobbes’schen Lehre – von der Angst als Fundament der conditio humana, von der zentralen Rolle des Egoismus und der Pleonexie, die von Hobbes postuliert, zur anthropologischen Konstante erhoben und damit zementiert werden (während die Pleonexie bei Aristoteles widernatürlich und ein Teil der verwerflichen Chrematistik ist). Für Kersting aber, der zu Recht auf die Unmöglichkeit verweist, ein reines, von jeglichen „geschichtliche[n] und kulturelle[n] Ablagerungen“ freies Menschenbild zu erhalten, trägt die von Hobbes als „Theorie des Allgemeinmenschen“ herausgearbeitete Anthropologie „charakteristische Modernitätssignaturen“ – und hier scheint eine bedeutende Abweichung von Hobbes vorzuliegen. Für Kersting ist nicht jedes, sondern nur das „moderne Individuum“ ein „bindungslos[es]“, „ursprünglich asoziale[s]“, aber „unendlich frei[es]“ Wesen. Die Frage ist nur, nach welchem Modell der Griff der oben genannten Charakteristika „Angst“, „Egoismus“ und „Pleonexie“ auf den Menschen fester ist, verzichtet doch auch Kersting trotz der scheinbaren Akzentverlagerung von der Natur auf die Geschichte auf konkrete geschichtliche Bestimmungen, welche die Ursachen dieser Erscheinungen benennen und hiermit einen Weg zu ihrer Überwindung weisen würden.
Weitere beunruhigende Momente wie die von Hobbes als gefährliche Krankheit verworfene Tyrannophobie, sein antidemokratischer Impetus und sein Anti-Republikanismus sind mit dem Bild eines revolutionären und dazu noch liberalen Denkers auch schwer vereinbar und hätten einer gründlicheren Explikation bedurft.
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