Kanons Rache

Thomas Gsella parodiert die „Frankfurter Anthologie“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Hegel einmal das Verhältnis von Alter und Neuer Welt erklären wollte, schrieb er, dass das eigentlich wie bei alten Reichsstädten und ihren Nachbarorten sei. Neue Städte würden deshalb aufblühen, weil das Handwerk bei ihnen nicht so verkrustet sei, und jeder dort sein Gewerbe treiben könne, wie es ihm beliebe. „So entstand neben Hamburg Altona; neben Frankfurt Offenbach, Fürth bei Nürnberg, Carouge neben Genf. In gleicher Weise verhält sich Nordamerika zu Europa.“ Das mag eine etwas billige Erklärung sein, schon weil Hegel von Amerika so gut wie keine Ahnung hatte. Mit Frankfurt und Offenbach liefert er aber bereits die richtigen Stichwörter. Wie Fürth neben Nürnberg, oder eben wie Nordamerika neben Europa, so hat Thomas Gsella seine „Offenbacher Anthologie“ neben ihren bekannten Frankfurter Gegenpart gestellt.

Die „Frankfurter Anthologie“ muss hier wohl kaum vorgestellt werden: Seit 1974 erscheint in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung allsamstäglich ein mehr oder weniger kanonisches Gedicht eines deutschsprachigen Autors beziehungsweise einer Autorin, begleitet von einer kurzen Interpretation aus der Feder einer namhaften Wissenschaftlerin, eines Literaturkritikers oder auch anderer Schriftsteller. Initiator dieser Reihe ist Marcel Reich-Ranicki, der bis heute die jährlich erscheinenden Buchausgaben der Anthologie betreut. Inzwischen sind über 1.600 Beiträge in 33 Bänden im Rahmen dieses monumentalen Unternehmens erschienen. Man kann die „Frankfurter Anthologie“ natürlich auch dafür kritisieren, dass sie immer wieder die gleichen Texte feiert, die ohnehin schon kanonisiert sind, und so den überkommenen Horizont des Bildungsbürgertums immer wieder aufs Neue zementiert. Na, wer wird denn nicht einen Klopstock loben? Oder einen Grass, Goethe, Grünbein und wie sie alle heißen, und, wenn es hochkommt, auch mal einen Brinkmann oder Bobrowksi?

Man kann an der Institution auch ganz anders rütteln als durch bierernste Kritik – nämlich, indem man sich ihre Prinzipien zu Eigen macht und durch den Kakao zieht. Das leistet Thomas Gsella mit „Warte nur, balde dichtest du auch!“, seiner „Offenbacher Anthologie“. Damit auch jeder versteht, was hier parodiert wird, wirbt schon der Umschlag mit dem Statement „nicht herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki“. Im Gegensatz zur „Frankfurter Anthologie“, heißt es im Vorwort, wolle ihr auf 4.000 Bände angelegter Offenbacher Gegenpart Dichtern aus der ganzen Welt ein Forum geben. Fünfzig (fiktive) Dichter aus fünfundvierzig Ländern werden in diesem ersten Band vorgestellt. Kommentiert werden ihre Poeme von namhaften (nicht fiktiven) Autoren und Kritikern wie Roger Willemsen, Botho Strauß, Iris Radisch, Alice Schwarzer, Hellmuth Karasek und Hans Magnus Enzensberger. Das heißt, in Wirklichkeit stammen alle Gedichte und Interpretationen von Gsella selbst, aber die fünfzig vorgeführten Interpreten haben immerhin den Gebrauch ihrer Namen autorisiert.

Der 1958 geborene Gsella ist normalerweise ein Garant für wirkliche Komik. Jahrelang Chefredakteur der Titanic, veröffentlicht er bereits seit 1999 eigene Gedichtbände. Was und wie viel er kann, kann man sehr schön in seinem eigenen Best Of „Nennt mich Gott“ (2008) nachlesen. Daran gemessen, enttäuscht die „Offenbacher Anthologie“. Das Prinzip der fünfzig Einträge ist stets das gleiche: Am Anfang steht ein sinnfreies Gedicht von Scheich Abu Maza El-Asri, Pommes, Bibi Ölgrund, dem Schimpansen Schnucki oder der Poëzie Groep Enkhuizen, das dann in einer pesudo-tiefgründigen Analyse zerlegt wird, die sich auf den zweiten Blick als ausgesprochen flach entpuppt.

Das hat durchaus Charme, wenn Rilke-Zitate in der großen Sinnvernichtungsmaschine kleingehäckselt werden, wenn der Ostschweizer Lyriker Mario Hodler in „Zettelstraum 19“ ein Robert Gernhardt-Gedicht auf Pappe verwittern lässt, oder wenn „Weltenraum“, ein Zyklus der nordalbanischen Dichterin Amelie Berisha Schöll, das große „Alfabet“ der verstorbenen Inger Christensen parodiert: „Langes Lama liegt langustig / Liebe leuchtet lila lustig / Luzifer lacht luftleer / Links“. Auch sich selbst nimmt Gsella nicht aus: Ein wenig vorteilhaftes Jugendporträt von circa 1980 zeigt ihn als Samoth Allesg, Verfasser des dazu passenden „Alles ist Scheitel“, das wiederum ein Gedicht von Andreas Gryphius überschreibt. Wie gesagt, das hat seine großen Momente, läuft letztlich aber auf fünfzig Variationen des gleichen Witzes hinaus. Schade auch, dass in den Kommentaren kaum ein individueller Stil der Parodierten auszumachen ist. Man kann die „Frankfurter Anthologie“ so verkrustet finden wie das Handwerk in alten Reichsstädten, aber nach hundert Seiten Gsella möchte man doch manchmal lieber den Kanon lesen als seine Parodie, die es sich mit ihrer Mischung aus sympathischem Nonsens und bisweilen plumper Blabla-Exegese auf Dauer allzu einfach macht. Zumindest diesen Hang zur Vereinfachung teilt sie immerhin mit Hegel.

Titelbild

Thomas Gsella: Warte nur, balde dichtest du auch! Offenbacher Anthologie.
Ullstein Taschenbuchverlag, Berlin 2010.
104 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-13: 9783548373058

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