Messianische Dimension

Jean-Michel Palmiers unvollendete Studie über Walter Benjamins „Leben und Werk“ nimmt auch die Rolle der Literaturkritik in den Blick

Von Margarete FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Margarete Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamins Werk ist Mythos und unausstudierbares Forschungsobjekt zugleich. Benjamins Verklärung seit den 1968er-Jahren kam entgegen, dass er sich nur schwer einordnen lässt: als Essayist, gescheiterter Akademiker, Übersetzer, Kunsttheoretiker, Geschichtsphilosoph und natürlich auch Kritiker. Doch nun gelingt es der umfangreichen, jedoch unvollendet gebliebenen Monografie von Jean-Michel Palmier (1944-1998) – von Florent Perrier in der Übersetzung von Horst Brühmann bei Suhrkamp herausgegeben – über weite Strecken, die Person Benjamin und deren Werk zu entmystifizieren und theoretisch in historische, philosophische und theologische Kontexte einzubetten. Das alles auf eine sehr unangestrengte, höchst kenntnis- und materialreiche Weise, die nicht dem Benjamin’schen Sprachduktus verfällt – wie so oft in der Literatur zu und über Benjamin.

Palmier geht es nicht um ein einzelnes theoretisches Interesse, sondern darum, die verschiedenen Fäden heraus zu präparieren, die sich durch Benjamins Texte ziehen, sich immer wieder kreuzen oder streckenweise parallel verlaufen. Im Untertitel jedoch deutet sich schon an, wo die Schwäche der Untersuchung liegen wird: „Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein“ – allesamt allegorische Figuren, die zwar für Benjamins bildkräftiges Denken stehen können, doch allzuoft nur Paraphrasen erzeugen, wenn nämlich mit ebendieser Begrifflichkeit dessen Texte gedeutet werden sollen. Immer wieder rutscht auch Palmier in diese selbstreferentielle, zirkuläre Begründungsfigur, doch größtenteils entkommt er dem Dilemma, dem sonst ein Großteil der Benjamin-Forschung erliegt.

Wird im ersten von vier Teilen des Buches (nur drei davon konnte Palmier selbst noch fertig stellen) chronologisch der soziokulturelle und historische Kontext von Benjamins Leben aufgezeigt, wenn er auch hier schon vor allem über Briefe und sonstige schriftliche Äußerungen vermittelt wird, so wird ab dem zweiten Teil die Bedeutung des Buch-Untertitels deutlich: „Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin“.

Materialistische Ästhetik, Messianismus, Philosophie, Magie und Sprache sind die Felder, auf denen unter inhaltlichen Aspekten Texte verschiedenster ,Schaffensphasen‘ zusammengebracht werden. Es stört dabei nicht, dass Benjamin zu Lebzeiten gar nicht so viel veröffentlich hat. Genau genommen nur drei Bücher, darüber hinaus hat er noch eine Anthologie von Briefen unter Pseudonym herausgegeben, vier Bücher aus dem Französischen übersetzt und sonst – und das scheint seine Haupttätigkeit gewesen zu sein – eine große Anzahl von Rezensionen und Essays geschrieben, vor allem für die „Literarische Welt“ und die „Frankfurter Zeitung“.

Im dritten Kapitel des zweiten Teils seiner Monografie geht Palmier ausführlich auf Benjamins Tätigkeit als Literaturkritiker ein, genauer: auf die theoretischen Grundlagen und Kontexte der Literaturkritik als Gattung im Sinne Benjamins. Da der Begriff bei Benjamin selbst niemals systematisch dargestellt wurde und seine Konzeption in seiner Dissertation über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ sich nach und nach erweitert, versucht Palmier, die Benjamin´sche Terminologie anhand zentraler Grundkategorien herauszuarbeiten, indem er verschiedene Arbeiten Benjamins heranzieht. Grundlegend ist zunächst Benjamins Sicht der Romantik, dann Ausschnitte aus dem Essay zu den „Wahlverwandtschaften“, die esoterisch anmutende Vorrede zum „Trauerspiel“-Buch, die Skizzen zum „Passagen“-Werk, in der „Einbahnstraße“ die einschlägigen Thesen zur „Technik des Kritikers“ und natürlich die eigenen Rezensionen und Kritiken. Seltsamerweise bleibt aber Benjamins eigenes Zeitschriftenprojekt „Angelus Novus“ zu Beginn der 1920er-Jahre völlig unbeachtet.

Man würde Benjamins Vorhaben verkennen, so Palmier, bezöge man sich nur auf die „klassischen“ Texte, um zu einer vollständigen Darstellung seiner Konzeption der Kritik zu gelangen (also nur seine Dissertation über die Romantik und das „Trauerspiel“-Buch). Denn weil Benjamin ein „eigentümliches Verhältnis“ mit den Objekten seiner Erforschung verbindet, finden sich wesentliche Elemente seiner Methodik etwa ebenso im „Wahlverwandtschaften“-Essay. Dagegen ist beispielsweise das Konzept der Wahrheit, die im „Trauerspiel“-Buch noch gerettet werden soll, kaum wiederzufinden in der Konzeption des Eingedenkens des „Passagen“-Werks – beiden jedoch eignet derselbe messianische Anspruch. Und die Negativität der Kritik im „Passagen“-Werk bringt Gehalte ans Licht, die zwar völlig anders geartet sind, aber dennoch die gleiche Rolle spielen wie die barocke Allegorie des „Trauerspiel“-Buchs.

Die Schwierigkeiten, die seinem Vorhaben zugrunde liegen, benennt Palmier selbst: die Widersprüchlichkeit der theoretischen Bezüge (von Immanuel Kant bis Karl Marx); die sich widersprechenden Stoßrichtungen der Konzeption (einerseits Kritik als Gattung und damit einhergehend die Bedeutung der Sprachphilosophie, andererseits Kritik als politisches Instrumentarium); die Verwendung unterschiedlichster Kategorien, da Benjamin fast mimetisch die Form des kritisierten Werkes übernimmt und so mit jeweils anderen Kategorien und Termini spricht; der Umfang und Anspruch seiner Kritik, denn sie ist getreu dem Ideal der Brüder Schlegel nicht nur auf das Feld der Literatur beschränkt, sondern ist immer auch philosophische Kritik, der eine theologische Absicht zugrunde liegt; nicht zuletzt begegnen sich laut Palmier in dem Ziel der Kritik, in der „Rettung der Werke, der Erscheinungen, der Erfahrungen“ zwei grundlegende Bereiche von Benjamins Schaffen: die theologische Inspiration und die politische Dimension.

Damit lehnt diese – wenn auch uneinheitliche – Konzeption der Kritik ganz entschieden die klassische akademische Kritik sowie die orthodoxe Form der marxistischen Kritik ab, aber auch den „Feuilletonismus“. Und dennoch bleibt sie hinsichtlich der Einheit ihres methodischen Vorgehens problematisch. Die ursprüngliche Prägung durch Kant, die Romantik und Friedrich Hölderlin lässt sich auch später noch in einigen zentralen Postulaten Benjamins finden, etwa in dem Begriff der „Rettung“, im Wahrheitsgehalt, den es herauszuarbeiten gilt, in der Bedeutung des Theologischen und dem Stellenwert der Allegorie. Doch übersetzt Benjamin ab 1933 einige dieser Forderungen in marxistisches Vokabular – zusammenhängend mit seinem Projekt einer „materialistischen Kunsttheorie“ und „Literaturkritik“ –, was jedoch auch Auswirkungen auf die originäre Dimension der Begriffe hat. So tritt der Einfluss der Brüder Schlegel zugunsten desjenigen von Theodor W. Adorno und Bertolt Brecht zurück, oder die platonische Idee wird abgelöst durch die Suche nach Vermittlungen. Während die Monade im Sinne Gottfried Wilhelm Leibniz’ umgesdeutet wird in eine historische Begrifflichkeit, wird auch der esoterische Aspekt des „Wahlverwandtschaften“-Essays und der Vorrede des „Trauerspiel“-Buchs zugunsten einer Forderung nach politischer Wirksamkeit aufgegeben – oder zumindest abgeändert, wie es sich besonders markant in dem Text „Der Autor als Produzent“ von 1934 zeigt.

Palmier führt die Schwierigkeiten, die sich bei Benjamins theoretischem Verständnis der ,Gattung‘ Literaturkritik auftun, darauf zurück, dass hier Sprachphilosophie, Theorie der Kunstkritik und Geschichtsphilosophie ineinander greifen. Dass dies keinem Eklektizismus gleichkommt, sondern Methode hat, wird deutlich, wenn man die Zeitschrift „Athenäum“ der Brüder Schlegel als Vorbild erkennt, dann wird ersichtlich, dass Benjamins Ablehnung der strengen Unterscheidung von Kritik und Philosophie sich darauf bezieht, dass auch er, wie die Schlegel-Brüder, der Kritik die Würde einer philosophischen Gattung verleihen möchte, die der Dichtung in keiner Weise unterlegen ist. Denn die Kritik soll nicht nur über ein Werk urteilen oder es analysieren, sondern vielmehr seine verborgenen Möglichkeiten freilegen, um es so zu vollenden und ihm ein Weiterleben zu sichern.

Benjamin selbst betont immer wieder, dass jeder kritische Ansatz auf einer Erkenntnistheorie zu fußen habe. Dies ist zwar bei seinen größeren Arbeiten zu erkennen, sei aber, laut Palmier, vor allem in der Masse der Rezensionen der 1920er-Jahre kaum mehr zu bemerken: zum einen, weil Benjamins Perspektive auf das Kunstwerk immer eine bestimme Wirkung oder Absicht verfolgt, zum anderen, weil seine Methode sich jedesmal fast mimetisch dem Werk anschmiegt.

Zentral aber für Benjamin ist seine Auseinandersetzung mit der Romantik, die er mit seinen eigenen Ideen und vor allem mit denen Kants konfrontiert. Denn wenn Kant den Begriff der Kritik mit „großer Würde“ (Palmier) versah und mit erkenntnistheoretischen Intentionen verknüpfte, so gelang es den Frühromantikern, die Beschränkung dieses Begriffs aufzubrechen und ihn als eine positive Methode auch auf das Feld der Kunst zu übertragen.

Benjamin war es natürlich bewusst, dass er die Intuitionen der Romantiker nicht einfach wiederholen konnte, sondern in seinem Sinne weiterdenken musste.

Darüber hinaus sind aber auch sprachtheoretische Ansätze für Benjamins Kritikbegriff bedeutsam, was nicht nur in seinem Essay „Über Sprache überhaupt und über die Sprache der Menschen“ (1916) zu erkennen ist. Es geht ihm auch um eine Erweiterung des Kritikbegriffs mithilfe einer erneuerten Sprachtheorie, in die er theologische Begriffe einfließen lässt, was in der deutschen Philosophie des beginnenden 20. Jahrhunderts durchaus en vogue war (etwa bei Ernst Bloch, Franz Rosenzweig, Hermann Cohen und Georg Lukács) – bei vielen von ihnen erfuhr auch die Romantik erneute Wertschätzung und Interesse.

Was Benjamins Kritik von derjenigen der Romantik unterscheidet, so betont Palmier, sei jedoch die höchst unterschiedliche Interpretation der Geschichtlichkeit des Kunstwerks: wurde in der Romantik der Text als ein Text der Natur angesehen, so umfasst er bei Benjamin dagegen eine metaphysische, später dann historische Dimension. Sowohl der Einfluss des Judentums als auch der des Materialismus lassen Benjamin das Kunstwerk unter dem Aspekt seiner Rettung betrachten. Denn die Literaturkritik – und natürlich nicht nur sie – steht einer Geschichte gegenüber, die unvollendet ist, zumindest aus menschlicher Perspektive. Die „messianische Dimension“ der Literaturkritik, so Palmier, indem er sich dem Benjamin´schen Sprachduktus annähert, „liegt somit in der Vollendung eines Sinns. Indem sie dem Werk ein neues Leben einhaucht, indem sie seine verstreuten Elemente aufsammelt, verleiht sie ihm den Rang einer Idee. Indem sie die Geschichte transzendiert, lässt sie seine Wahrheit erstrahlen.“

Indem sich Benjamin auf die Tradition des „Athenäum“ bezieht, polemisiert er auch gegen die wichtigsten Arten der zeitgenössischen Literaturkritik, also gegen die universitäre Kritik, wie auch gegen die der Schule Stefan Georges, gegen marxistische Kritik und nicht zuletzt auch gegen die allgemeine ,Publizistik‘. Bei ihnen allen findet er Symptome einer ernsthaften Krise: nicht nur der Randzonen der Kultur, sondern der Literatur, der Sprache und der Geschichte. En passant bemerkt Palmier, dass Benjamins Polemik nicht ohne Folgen für ihn blieb, denn so wie er die klassische Germanistik verspottete, gegen ihr akademisch schwerfälliges Gehabe und ihre angebliche Wissenschaftlichkeit polemisierte, genauso sollte seine Habilitationsschrift von eben dieser Germanistik mit leiser Ironie ignoriert werden. Palmier zeichnet in den nächsten Abschnitten einzelne Aspekte und Themen von Benjamins Dissertation nach, unterfüttert sie mit einer Fülle an detailliertem Wissen über die deutsche Romantik und deren Kant-Rezeption und legt die romantischen Begriffe der Reflexion und der Kritik sowie der Autonomie des Kunstwerks dar.

Daraus entwickelt er die Benjamin´sche Position, für den die Interpretation eines Werkes darauf abzielen muss, die Idee und damit seine Wahrheit herauszuarbeiten – nur so kann sich auch die Schönheit zeigen. War für die Romantiker „die Theorie des Kunstwerks […] die Theorie der Form“, so überträgt Benjamin diese kantianisch geprägten Begriffe in platonische Begriffe, was es ihm ermöglicht – und das ist auch die wirklich eigenständige Erweiterung –, dem romantischen Ansatz eine geschichtsphilosophische Dimension hinzuzufügen. So weist Benjamin darauf hin, dass die Ideen eher zur Philosophie der Geschichte gehören als zur Philosophie der Form: „Metaphysische Konstellationen, wie sie sich im Verlauf der Zeit in vielfältigen Zusammenhängen entfalten, sind von der Sprache, die sie benennt, nicht zu trennen.“ Dieses Konzept der Ideen bestimmt auch Benjamins Unterscheidung von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt der Werke. Denn die historische Dimension ermöglicht es erst, dass der „Wahrheitsgehalt“ eines Werkes erscheinen kann: dadurch, dass der „Sachgehalt“ durch den zeitlichen Abstand zwischen Leser und Werk zurücktritt.

Die Funktion der Kritik im Sinne Benjamins besteht darin, diesen Prozess zu vollenden. Vollendet wird die Literaturkritik mithilfe der Kategorie der Rettung. ‚Rettung‘ bei Benjamin ist keinesfalls eine religiöse Kategorie, eher eine Umdeutung von theologischen Konzepten in profane, dennoch ist von ihr die messianische Dimension nicht zu trennen. ‚Rettung‘ ist umfassend, betrifft, wie Palmier darstellt, „das Sinnliche wie das Intelligible, Gegenwärtiges wie Vergangenes, Totes wie Lebendes.“ In der Kategorie der ‚Rettung‘ fallen sowohl die materialistische Dimension mit der theologischen in eins, als auch der mystische Messianismus mit der säkularisierten Utopie.

Palmier arbeitet Benjamins Verwurzelung im Messianismus noch schärfer heraus: habe der traditionelle religiöse Messianismus oft zu einer „fast magischen Grenzverwischung zwischen Theologischem und Politischem geführt“, so halte Benjamin den Abgrund zwischen beidem bewusst offen, ja er treibe sogar die Spannungen, die darin enthalten sind, bis in die Extreme, ohne jedoch eine Lösung zu bieten. Vielmehr gewinnt er so eine hochkomplexe Philosophie der Geschichte und der Zeit.

Kritik und Rettung sind auf das Engste verknüpft mit wiederbelebten metaphysischen Vorstellungen, Bildern und messianischen Hoffnungen, die auch im Zentrum der Romantik stehen. Retten durch Kritik war auch eine grundlegende Forderung Friedrich Schlegels. Ohne Kritik bleibe jedes Werk letztlich unvollkommen, meinte auch er.

Bei Benjamin wird die Kategorie der Rettung um die geschichtsphilosophische Dimension erweitert, insofern die Rettung als Geste, die vom Kritiker und seiner Einbettung in die Zeit, seinem Jetzt, und seiner Sensibilität nicht zu trennen ist – und diese historische Verankerung der Kritik bildet die Grundlage für eine Forderung der Gegenwart an das Werk, es geht um die Konfrontation von Gegenwärtigem und Vergangenem.

Genau dies ist der Punkt, an dem Benjamin nach der Begegnung mit dem Marxismus anknüpfen kann, um auch in einer materialistischen Interpretation der Werke die Kategorie der Rettung beizubehalten – indem nämlich der Kritiker persönlich und politisch mit einbezogen wird, was natürlich in einem tiefgreifenden Gegensatz zur universitären Kritik steht. Die materialistische Form der ‚rettenden Kritik‘, die dann im „Passagen“-Werk zu finden ist, hat aber nicht mehr nur zum Ziel, die Wahrheit des Werkes ans Licht zu bringen, die Ideen wiederzufinden, sondern es geht darüber hinaus auch darum, das historische Kontinuum aufzubrechen, um das spezifische Objekt der Kritik herauszulösen. Die Relation von Gewesenem und Gegenwärtigem lässt die Interpretation zu einer gegenseitigen Erhellung von Gegenwart und Vergangenheit werden und befähigt die verändernde Tat, so dass das gerettete Material der Vergangenheit damit seiner Versteinerung entgeht und von Neuem zu leben beginnt.

Palmier weist darauf hin, dass die Art der rettenden Geste vor dem Hintergrund von Romantik, Judentum und später dann der materialistischen Geschichtsinterpretation sich zwar analysieren lasse, doch dass das, was nun eigentlich gerettet werde, höchst problematisch bleibe. Zur Debatte stehe alles, was zu verschwinden drohe: die Wahrheit des Werkes, die von ihm wiedergegebene Erfahrung, die darin versammelte Tradition der Unterdrückten, womöglich Geschichte als ganze. Doch tatsächlich gerettet werden nur Bruchstücke, Ruinen, Fragmente, auch Monaden und Bilder, die alle zum Objekt der Interpretation werden.

Darüber hinaus erweitert und verändert sich die Bedeutung des Begriffs der Rettung fortwährend, wie es Palmier in groben Zügen aufzeigt. Was jedoch über alle Verschiebungen hinweg bleibt, ist der Anspruch Benjamins, die Wahrheit menschlicher Erfahrung, das Gewicht und den Ernst ihrer Leiden und Träume zu retten. Denn was sowohl der Kritiker als auch der materialistische Historiker zu bewahren versuchen, „sind Bilder, Kristallisationen von Sinn, in denen dieser Faden, der jeden Augenblick der Zeit mit allen anderen verbindet, wahrnehmbar wird.“

So klug und breitgefächert und leicht auch diese Darstellung daherkommt – es bleibt ein Wunsch unerfüllt. Natürlich der, dass all diese theoretischen Darstellungen von Benjamins Begriff der Kritik doch nicht nur zu Benjamins großen, bekannten Schriften in Bezug gebracht würden, sondern vor allem auch in concreto kommentiert, etwa anhand der zahlreichen Kritiken und Rezensionen Benjamins, die jedoch von Palmier bis auf einige wenige Ausnahmen nicht beachtet und meistens nur als bloße Broterwerbs-Tätigkeit angesehen werden. Doch vielleicht hatte Palmier das ja auch noch vorgehabt.

Titelbild

Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin. Leben und Werk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
1372 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783518585368

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