Zusammen ist man weniger allein

Bernd Lichtenbergs Debütroman „Kolonie der Nomaden“ überzeugt durch bildhafte Sprache

Von Anabell SchuchhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anabell Schuchhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beerdigungen bieten oft Anlass dafür, dass über die Welt verstreute Familien in ihrer ursprünglichen Heimat zusammenkommen. Ganz gleich, wie weit sich die Angehörigen auseinander gelebt haben und wie rar der Kontakt über die letzten Jahre gewesen sein mag: Der Tod eines nahestehenden Verwandten bildet dann stets den Auftakt für ein – gezwungenes – von Verbundenheit. In Bernd Lichtenbergs Debütroman „Kolonie der Nomaden“ ist es der Tod des Großvaters, der die Familie wieder miteinander vereint.

Paul ist Anfang zwanzig. Nach dem Abitur hatte er seine Heimat nahe Köln verlassen, um in Berlin Philosophie zu studieren. Dass er darin längst gescheitert ist, wissen seine Eltern, Marianne und Johannes, nicht. Als der Sohn für die Beerdigung nach Hause kommt, macht er sich daher Gedanken, wie er ein Studentenleben vorgaukeln kann, anstatt sich auf die Trauerfeier zu konzentrieren. Johannes wiederum versetzt das Wiedersehen mit Paul in innerlich aufkeimende Panik: Er hat das Gefühl, als Vater versagt zu haben. Zwischen den beiden Männern kommt es lediglich zu verkrampften Gesprächen, in denen keiner dem anderen etwas zu sagen hat. Marianne bekommt von diesen Sorgen nichts mit. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, ihrer Schauspielkarriere hinterher zu trauern und die Affäre mit einem der Pfleger des toten Großvaters zu verbergen.

Ein weiterer Anreisender ist Andreas, der sich vor 30 Jahren ins Ausland abgesetzt und seitdem jeden Kontakt nach Deutschland vermieden hat. Er ist der ältere Bruder von Johannes und zudem der Exfreund von Marianne. Nur durch Zufall erfuhr er von der Krankheit seines Vaters und beschloss spontan in seine eigentliche Heimat zurückzukehren. Dort angekommen, gibt er sich jedoch nicht zu erkennen, sondern geistert um sein Elternhaus herum, um von dort das ihm unbekannt gewordene Leben seiner Verwandten zu beobachten.

Das Thema ‚Familie‘ scheint Autor Lichtenberg zu liegen. Bekannt wurde er als Drehbuchautor für den Film „Good Bye, Lenin“, in dem ein Sohn viel dafür tut, seiner kranken Mutter den Mauerfall zu verschweigen und ihr ein Weiterbestehen der DDR vorgaukelt. Auch im 2005 erschienenen Erzählband „Eine von vielen Möglichkeiten, dem Tiger ins Auge zu sehen“ handelten die Kurzgeschichten fast ausschließlich von Familien.

In dem Roman „Kolonie der Nomaden“ fehlt jedoch jegliche familiäre Umgebung. Jeder ist ausschließlich mit sich selbst beschäftigt und darum bemüht, seine tatsächlichen Gedanken durch Lügen zu vertuschen. Ansonsten passiert nicht wirklich viel in den 220 Seiten. Es verstreicht gerade einmal ein Tag im Leben der vier Protagonisten. Dennoch gelingt es Lichtenberg nur durch die Beschreibung der verschiedenen Seelenleben, ein Kopfkino bei dem Leser auszulösen. Die anschaulichen Ausführungen stecken dabei zwar oft in recht langen Sätzen, doch gerade diese sind es, die den Zwang und die Hilflosigkeit verdeutlichen, denen die Personen im Buch unterliegen. So erhält man zum Beispiel Einblicke in das Innerste des Außenseiters Paul: „Wieder einmal hatte er das Gefühl, hermetisch abgeschlossen im Inneren der Erdkugel zu leben, unter dem Boden, so als wäre der Planet ausgehöhlt und er würde allein auf der falschen Seite hängen, quasi mit den Füßen nach oben und dem Kopf ins Leere, aber er riss sich zusammen, um dem kleinen Mädchen ein souveränes Lächeln vorzutäuschen, beugte sich unter linkischen Verrenkungen seines Oberkörpers vor und schlürfte den Kaffee mit den Lippen ab.“

Abwechslung und Spannung erhält das Buch weiterhin durch den Perspektivenwechsel, der in jedem Kapitel vorgenommen wird. Der Leser erfährt somit die Details aus den Leben der vier Protagonisten und bekommt durch zeitliche Überschneidungen in bestimmen Abschnitten unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschehnisse: Marianne etwa braust mitten in der Nacht nach einem Streit mit Johannes mit dem Auto davon, um den Kopf frei zu bekommen und ihren Liebhaber zu treffen. Ihr Ehemann hingegen verfällt währenddessen mit einer Flasche Rotwein in lethargisches Sinnieren.

Es stellt sich die Frage, was diese Familie daran hindert, einander die Wahrheit zu sagen. Die individuellen Probleme wirken gekünstelt und übertrieben. Äußerlich geht es den Personen sehr gut: Bei dem Garten von Johannes’ Elternhaus, hat „der Gärtner […] eine fast zu perfekte Arbeit geleistet“, Paul mangelt es nicht an finanzieller Unterstützung und Marianne arbeitet in einer Fertighaussiedlung mit „hübsch dekorierten Straßen“. Zufrieden machen diese Güter ihre Besitzer allerdings nicht. Es fehlt an innerer Überzeugung vom eigenen Leben. Und es mangelt an Vertrauen untereinander. Die Beerdigung kommt da gerade recht, gibt sie doch Anlass, die Trauerstimmung nicht nur auf den Tod, sondern auch auf das eigene Leben auszudehnen und in Erinnerungen zu versinken. „Im Grunde“, resümiert Andreas, „war man doch immer allein“. Ob es für diese Familie wohl schon zu spät ist, wieder eine Gemeinschaft zu werden?

Titelbild

Bernd Lichtenberg: Die Kolonie der Nomaden. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2010.
216 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783498039226

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