Von Beamten und der Bourgeoisie

Über Nicholas Boyles „Kleine deutsche Literaturgeschichte“

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinz Schlaffer machte es zu Beginn dieses Jahrhunderts vor, als er Literaturliebhaber wie Germanisten mit einer „Kurzen Geschichte der deutschen Literatur“ verblüffte: Eine essayistische Sammlung von Aperçus, die elegant und gleichermaßen wortgewaltig auf 150 Seiten beschrieb, was die deutsche Literatur nicht nur auszeichnet sondern zudem erklärte, wie sie wurde, was sie war und ist. Hermann Kurzke orientierte sich in seinem brillant formulierten Essay „Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur“ in diesem Jahr an dem gesetzten Standard, fügte ein Persönliches in Gestalt von Lektüreerfahrungen hinzu und griff zudem auf das Werk von Nicholas Boyle zurück, das 2008 als „German Literature. A Very Short Introduction“ in Oxford erschien.

Dieses Werk ist nun auf Deutsch in einer um gut 100 Seiten erweiterten Ausgabe als „Kleine deutsche Literaturgeschichte“ verfügbar: Die wichtigsten Autoren und Werke vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart behandelt der Träger der Goethe-Medaille in seiner Literaturgeschichte. Stehen im Vordergrund auch die Texte, geht es Boyle bei diesen vor allem um den „Charakter des literarischen Beitrags, den Deutschland zu unserem modernen Selbstverständnis geleistet hat“ – und damit um den „Charakter der Gemeinschaft, für die und über die und in deren Sprache sich deutsche Schriftsteller geäußert haben.“ Kurz: Nicholas Boyle deutet die Literatur von dem aus, „wovon sie handelt“ und lenkt seinen Blick auf die literarischen Reflexionen von sozialen, politischen, religiösen und philosophischen Entwicklungen.

Literarhistorische Epochen liefern Boyle dabei weder Struktur seines Werkes noch Titel seiner Kapitel; vergebens sucht der Leser nach der „Weimarer Klassik“, dem „Bürgerlichen Realismus“ oder der in der Literaturgeschichtsschreibung mitunter noch immer diskutierten „Kunstepoche“ Heinrich Heines, die etwa Wolfgang Beutin in seine Literaturgeschichte aufnahm. Boyle beginnt hingegen mit einem historischen Überblickskapitel, in welchem er die „spezifisch deutsche“ Dialektik von Bourgeoisie und Beamtentum nachzeichnet und als Katalysator für die literarische Kultur Deutschlands ausmacht. Das Kapitel setzt mit der Neuzeit an, die er auf den Beginn der Reformation datiert, und reicht bis zur Zäsur der Wiedervereinigung Deutschlands. Hierauf folgen die deutsche Geschichte des Mittelalters in dem Kapitel „Die Grundlegung“ sowie die „Zeitalter“ der Aufklärung, des Idealismus und des Materialismus. Das Kapitel „Trauma und Erinnerung“ arbeitet die deutsche Literaturgeschichte von 1914 bis heute auf. Das siebte und letzte Kapitel widmet Boyle den Nationalliteraturen Österreichs und der Schweiz.

Die Zusammenschau von Literatur und historischer Entwicklung, die Deutung ersterer im Kontext letzterer, gelingt Nicholas Boyle. Gern folgt man dem Cambridge-Professor mit seiner pointierten, stilistisch hervorragenden Sprache durch die Jahrhunderte, die er schlaglichtartig über einzelne Autoren und ihre wichtigsten Werke beleuchtet.

Der essayistischen Annäherung wie dem Autoren selbst ist dabei die häufig eigenwillige Perspektive geschuldet: Aus dieser be- und verurteilt er und fordert damit einen kompetenten Leser, der abschätzen kann, ob Bertolt Brechts „Engagement für die Gesellschaft“ zur Zeit der „Dreigroschenoper“ nicht über den Wunsch hinausging, „sie zusammenzuschießen“ wie die Protagonistin aus „Die Seeräuber-Jenny“ oder ob und inwiefern Theodor W. Adorno und Max Horkheimers Deutung des amerikanischen Kapitalismus „ungehobelt und unpassend“ war.

Nicholas Boyles „Kleine deutsche Literaturgeschichte“ ist kein Werk für den Bachelor-Studenten, der sich auf seine Vorlesung über die deutsche Literaturgeschichte vorbereiten möchte – es ist hingegen ein Werk, das durch seine oft eigenwilligen Thesen und den fremden Blick auf das Gewohnte eine andere, herausfordernde Perspektive auf die literarische Kultur Deutschlands wirft und dabei auf wenigen Seiten weitaus mehr als Kanonwissen vermittelt.

Titelbild

Nicholas Boyle: Kleine deutsche Literaturgeschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
272 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783406586637

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