New Yorker Untergrund

John Wray zeichnet in seinem Roman „Retter der Welt“ das Psychogramm eines Schizophrenen

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 16-jährige Hauptfigur in John Wrays neuem Roman, der mit richtigem Namen William Heller heißt, im Text aber meist nur Lowboy genannt wird, ist paranoid schizophren. Im landläufigen Verständnis wird Schizophrenie nicht selten mit Persönlichkeitsspaltung gleichgesetzt, bei der sich ein Individuum wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hide in zwei Teile auflöst. Doch hat diese Einschätzung weder mit der medizinischen Definition von Schizophrenie etwas zu tun, noch trifft sie auf Wrays Helden. Hat John Wray also einen Roman geschrieben, in dem die Symptome, Verhaltensmuster und -entwicklungen eines Schizophrenen medizinisch ‚korrekt‘ wiedergegeben werden?

Das sicherlich auch – zumal seine Danksagung an verschiedene wissenschaftliche Gesprächspartner und die Hinweise auf psychiatrische Standardwerke eindrücklich dokumentieren, dass wir es hier mit einem gut recherchierten Text zu tun haben. Was an Wrays Roman aber vor allem überzeugt, ist die raffinierte erzählerische Darstellung der nur an einem Tag, dem 11. November, in New York spielenden Handlung, die auch schnell erzählt ist: Kurz vor seiner Entlassung aus der Psychiatrie entwischt Lowboy seinen Pflegern und flüchtet in die New Yorker Untergrundbahn, wo er scheinbar ziellos umherfährt, Leute anspricht und seinen Gedanken nachhängt. Da er es zuvor eigenmächtig und ohne Wissen der Ärzte geschafft hat, seine Medikamente abzusetzen, wird der Leser Zeuge, wie sich Williams ruhiggestellte Psyche wieder selbst bewusst wird und er zurückkehrt in seine eigene Welt, die von außen freilich krank wirkt.

Der andere Handlungsstrang spielt sich gewissermaßen an der Oberfläche ab. Da Lowboy vor seiner Einweisung in die Psychiatrie seine damalige Freundin Emily nach einer Umarmung in der U-Bahnstation auf die Gleise gestoßen hat, wird nach seinem Entkommen aus der Klinik auch die Polizei eingeschaltet, weil man mit erneuten Gewalttaten des Kranken rechnet. In Gesprächen mit Williams Mutter Violet versucht Detective Ali Lateef, Lowboys Krankheit und seine Verhaltensmuster zu verstehen, um Rückschlüsse auf seine Vorgehensweise zu bekommen. Interessant ist freilich nicht so sehr die auch als spannende Verfolgungsjagd oder Kriminalfall zu lesende rudimentäre Handlung der Geschichte, sondern vielmehr die narratologische Vermittlung sowohl des Innenlebens von Lowboy als auch der Außenwelt und ihrer Reaktion auf den Kranken sowie die vielfältigen literarhistorischen Traditionslinien, die im Roman aufgegriffen und erkennbar werden.

Medizinisch gesehen handelt es sich bei einer paranoiden Schizophrenie um eine psychische Störung, die chronisch, vor allem aber und häufiger auch schubweise auftreten kann, wie das auch bei William Heller der Fall ist. Neben zahlreichen anderen Symptomen, die die meist sehr unterschiedlich verlaufenden Krankheitsgeschichten begleiten, gehören Wahnvorstellungen zu den häufigsten Erscheinungen. Leitmotivisch zieht sich William Hellers Frage „Warum bin ich auf der Welt“ durch den gesamten Text. Seine Antwort darauf, „um die Welt zu retten“, ist so schlicht wie vermessen und birgt im Kern auch Lowboys Wahnvorstellung, von der er auf seiner Odyssee durch den New Yorker Untergrund getrieben wird.

Er ist überzeugt davon, dass die Welt am nächsten Tag – dem 12. November, seinem Geburtstag – durch Hitze zerstört werden wird. Mit einer paranoid-schizophrenen Hauptfigur stellt sich Wrays Roman in die Tradition der vor allem in der literarischen Moderne um die Jahrhundertwende zahlreichen Texte, in deren Mittelpunkt Irre, Psychopathen und geistig Verwirrte stehen. Was in Erzählungen bei Arthur Schnitzler, Alfred Döblin oder Georg Heym erzähltechnisch zu beobachten ist, hat Wray auf die Romanform ausgeweitet.

In jenen Kapiteln, in denen Lowboy durch den New Yorker Untergrund treibt, ist eine starke Tendenz zur Personalisierung des Erzählens zu verzeichnen, indem der Erzähler weitgehend in den Hintergrund tritt und die Ereignisse und minutiösen Wahrnehmungen aus der Perspektive von William geschildert werden, was nicht zuletzt zur Glaubwürdigkeit dieser Figur beiträgt – wenngleich freilich seine Gedanken und Vorstellungen einer ganz eigenen, eigentlich nicht nachvollziehbaren Logik gehorchen, was aber wiederum dem Krankheitsbild der Schizophrenie nur allzu gut entspricht. Auf der anderen Seite und kontrastiv dazu, nicht nur von der räumlichen Disposition her, werden die Kapitel, in denen Lateef mit Williams Mutter redet und versucht, ihren Sohn zu fassen, von einem autkorialen Erzähler präsentiert und damit eine größere erzählerische Distanz zum Erzählten hergestellt.

Von dieser Gegenüberstellung einer kranken und (scheinbar) gesunden Welt auch mit erzählerischen Mitteln geht eine gleichermaßen beeindruckende wie bedrückende Wirkung aus: Einerseits gelingt es Wray dadurch, das Geschehen eines einzigen Tages aus mehreren Perspektiven zu präsentieren. Andererseits wird der Leser auch Zeuge einer sich immer mehr und wieder Raum verschaffenden Krankheit bei Lowboy, der die hilflosen Versuche des Detectives und der Mutter gegenüberstehen , zu verstehen und zu deuten. Auf beiden Seiten stehen sich Personen gegenüber, die in ihren jeweiligen Wahrnehmungs- und Deutungsmustern gefangen zu sein scheinen, wie es Lowboy selbst über sich am Beginn seiner Irrfahrt durch New York diagnostiziert hat: „Ich bin in meinem eigenen Schädel gefangen, dachte er. Geisel meines limbischen Systems. Es gibt keinen Weg ins Freie, außer durch die Nase.“

Dass der Text ohne Wertungen, Schuldzuschreibungen und pseudopsychologische Erklärungsmuster auskommt, ist dabei nicht sein geringster Vorzug.

Titelbild

John Wray: Retter der Welt. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Peter Knecht.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.
349 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498073626

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