Gute Frage(n)

Sigrid Walther, Gisela Staupe und Thomas Macho präsentieren den Begleitband zur Dresdner Ausstellung „Was ist schön?“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über seinen Namen ist das Deutsche Hygiene-Museum Dresden nicht gerade glücklich; ebensowenig wie über viele Jahre seiner Geschichte. 1912 auf Initiative des Odol-Fabrikanten Karl August Lingner mit volksaufklärerischer Intention gegründet, bezog die Sammlung „Der Mensch“ mit dem berühmten „Gläsernen Menschen“ als Markenzeichen 1930 den vom Architekten Wilhelm Kreis im Stil der modernen Sachlichkeit entworfenen Bau und wurde schon bald zu einem herausstechenden Instrument der Nazi-Rassenpropaganda. Während der DDR-Zeit nahm das DHM ähnliche Aufgaben wahr wie in der Bundesrepublik die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, war aber jetzt den Hygiene-Idealen des Arbeiter- und Bauernstaats verpflichtet.

Seit 1990/91 nun sieht sich das „Museum vom Menschen“ in der „humanistischen Tradition verankert“, wie Museumsdirektor Klaus Vogel im 2005 von Prestel verlegten Museumsführer erklärt, um fortzufahren: „Unser europäisch-christliches Menschenbild wird seit zweihundert Jahren wesentlich von den modernen Wissenschaften vom Menschen geformt – heute gilt es, in ethischer Verantwortung auch Grenzen des wissenschaftlich Machbaren zu erkennen. Der ‚Gläserne Mensch‘ stand für eine einseitige medizinisch-technische Perfektionierbarkeit des Menschen. Heute lernen wir, den ‚(Im-)perfekten Menschen’ zu respektieren“.

Da darf man sich schon fragen, ob und inwieweit die favorisierte „humanistische Tradition“ in konvergierender oder kontrastierender Konkurrenz mit dem beargwöhnten „europäisch-christlichen Menschenbild“ steht. Jedenfalls bietet das Museum mit der aktuellen Schau „Was ist schön?“ (27.3.2010 bis 2.1.2011) die ausgezeichnete Gelegenheit, dem „imperfekten Menschen“ Reverenz zu erweisen. Und das tut es auch gleich in der ersten der fünf – von einer Ausstellungsagentur und einem professionellen Szenografen perfekt eingerichteten – Abteilungen, die unter dem Thema „Sehnsucht und Versprechen“ den verführerischen liegenden Rückenakten des schwedischen Fotografen Blaise Reutersward Aufnahmen von Herlinde Koelbl entgegenhängt: Eine alte nackte Frau mit denkbar faltiger Haut lässt keinen Zweifel an der Vergänglichkeit der Leibesschönheit; gleichgültig nun, ob diese im Auge des Betrachters oder im als schön wahrgenommenen Menschen selbst lokalisiert ist. In älteren Zeiten hätte man das als Allegorie der trügerischen „Frau Welt“, als Emblem der Vanitas, gedeutet.

Dass private und berufliche Karrieren schönheitsabhängig sind, möchte die zweite Abteilung („Macht und Macher“) demjenigen demonstrieren, der es noch nicht wusste. Man sieht erfolgreiche schöne Leute und das, was von Menschen so alles angestellt wird, um schön zu werden oder zu erscheinen: Lippenstifte, Highheels et cetera, wozu die Kuratorin Sigrid Walther betont, man wolle weniger gegen den Schönheitskult moralisieren als vielmehr zu einem „gelassenen Umgang“ anregen.

Gelassenheit aber fällt demjenigen Besucher schwer, der in einer Vitrine eine goldene Prothese erblickt und im zugehörigen Video erfährt, dass es sich dabei um eine Trophäe handelt, die in Angola seit 2008 der jährlich gekürten beinamputierten „Miss Landmine“ von einer privaten Initiative verliehen wird; zusätzlich zu einer „echten“ Prothese, wie die Presseinformation betont. Bis jetzt ist der Rezensent nicht mit dem Grübeln über diese triste Skurrilität fertig. Am beeindruckendsten ist jedoch der dritte Raum („Norm und Differenz“), in dem es um Körpervermessung und -normen seit dem Altertum geht sowie um die Dialektik von Individualisierung und Typisierung.

Von großem ästhetischen wie intellektuellen Reiz ist „Exactitudes“, das Werk der Rotterdamer Künstler Ari Versluis und Ellie Uyttenbroek. Ihre fotografischen Tableaus stellen jeweils zwölf Porträts sehr ähnlich gekleideter und sehr ähnlich posierender „Typen“ zusammen: ob nun die graue, dauergewellte Omi in ihrem uni-mattfarbigen Mantel oder den schwulen Leatherman mit Schlägerkappe und rasierter Brust. Jeder ist ganz er selbst und genau wie die anderen. Wir erkennen: Der Stoff, aus dem unsere Jeweiligkeit gewebt ist, gibt es weder bei C&A noch im Sado-Maso-Shop zu kaufen.

Marmorweiße Skulpturen aus dem klassischen Altertum und aus unserer Gegenwart sollen laut Ausstellungsprogramm das offenbar unhintergehbare „Bestreben von Künstlern, Wissenschaftlern und Designern [zeigen], die Schönheit des Menschen zu erklären und zu vermessen und seit neuestem auch virtuell zu generieren“. Was diese Figuren allerdings weitaus klarer darlegen, ist der Verlust an Körperscham in unseren Tagen: Während die „Venus Medici“ mit der Schamhaltung einer im Bad überraschten Bürgersfrau die Integrität und die Würde des weiblichen Körpers schützt, prostituiert sich Barbie selbstbewusst, halboffenen Schrittes und mit hervorgeschobenen Brüsten den Blicken. Und das in der Unterhose schwellend sich abzeichnende Gemächt des Barbie-Partners Oriol wird jeder hinschauende Betrachter zehnmal obszöner finden als das zersplitterte Steinzipfelchen des Epheben aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert.

Der vorletzte Raum („Wahrnehmung und Bewertung“) breitet Exponate zur biologischen Anthropologie der visuellen Wahrnehmung aus – von früharabischen Theorien des Sehens über Johann Wolfgang von Goethes Optik bis hin zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Schließlich endet der Rundgang in einem tempelartigen Saal, dessen Pfeiler mit Monitoren bestückt sind. Man sieht Filme über Leute, die dies und jenes für „schön“ halten. Die eine findet Nudeln schön, der nächste Modelleisenbahnen, andere finden es schön, sich an einem trendigen japanischen Verkleidungsspielchen zu beteiligen. „Jedem Tierchen sein Pläsierchen also?“, räsoniert der Besucher beim Hinausgehen, fragt sich, was denn nun das Schöne sei und greift zum schönbebilderten sowie mit einer Reihe zumeist kluger Aufsätze und Interviews bestückten Begleitbuch in der Hoffnung, durch die Lektüre vielleicht klüger zu werden als Sokrates, der schon vor zweieinhalbtausend Jahren im „Hippias maior“ vor dieser Frage kapituliert hatte.

Allerdings kam Platon in der Ideenlehre dem Problem des Verhältnisses der empirisch mannigfaltigen Einzelschönheiten zu dem einen, vollkommenen Schönen mit dem Gedanken der Teilhabe (Methexis) bei; einem Konstrukt, das nach dem Niedergang der Metaphysik auch im Ästhetik-Diskurs jedoch nicht länger zur Disposition steht. Dementsprechend unklar stellt sich dann auch derzeit die Norm-Differenz-Beziehung dar. Exemplifizieren lässt sich diese Ratlosigkeit in puncto „Was ist schön?“ an einem Passus aus dem Vorwort des Dresdner Begleitbandes: „Während eine verbreitete Vorstellung davon ausgeht, dass die Medien ein einheitliches Ideal von Schönheit vorschreiben, kommt die Ausstellung zu einem ganz anderen Schluss: Schönheit wird heute von den meisten Menschen als individuelle Differenz und bunte Vielfalt gelebt und erfahren. Es geht der Ausstellung nicht darum, das heutige Schönheitsideal abzuschaffen und durch neue Normen zu ersetzen. Eine solche Intention wäre naiv. Die Ausstellung möchte vielmehr eine kritische Bestandsaufnahme des heutigen Schönheitsdiskurses sein und den Besuchern so eigene Antworten auf Fragen ermöglichen“.

Abgesehen einmal davon, dass es ein nicht unbedingt einleuchtendes Ausstellungskonzept ist, Fragen aufzuwerfen, welche der Besucher dann zu beantworten hat (umgekehrt würde wohl eher ein Schuh draus: Besucher fragen, Experten antworten), spricht sich in der zitierten Stelle eine unübersehbar aporetische Bewusstseinslage aus: Man möchte ein Schönheitsideal, das es aber eigentlich auch nicht gibt, nicht „abschaffen“, sondern eine „kritische Bestandsaufnahme“ machen. Doch woher dann bitte die Kriterien der Kritik nehmen, wenn man sich derart ostentativ von eigenen Normsetzungen fernhält? Folgt das Hygiene-Museum etwa dem postmodernen Trend, Ideologie- und Kulturkritik für „out“ zu erklären?

In diesem Sinne führt die Soziologin Waltraud Posch in ihrem Buchbeitrag („Gesellschaft auf dem Laufsteg“) einen argumentativen Spagat vor, dem man gutgelaunt den Willen zum dialektischen Denken attestieren mag, der aber spätestens mit seinem Schluss befremden muss.

Posch meint, dass die heute ubiquitäre Praxis der Körperinszenierung einer „Medaille mit zwei Seiten [gibt es andere?] gleicht“. Das „Sich-schön-Machen“ kann, so Posch, „aber gleichzeitig ein Akt der Selbstermächtigung und der Aneignung von Möglichkeiten sein. Insofern sind auch per se negativ bewertende Klagen zum ‚Schönheitswahn‘ kritisch zu betrachten.“ Mithin wäre Kritik an einer Massenpsychose, die sich zwischen zwei Anführungszeichen camoufliert, eher zu kritisieren als der „Wahn“ selbst?

Während hier die bizarre Vorstellung forciert wird, zahllose weibliche Opfer würden qua Kotau vor Heidi Klum einen „Akt der Selbstermächtigung“ vollziehen, war wenige Seiten zuvor von der Medienwissenschaftlerin Astrid Deuber-Mankowsky mit unverhohlen kritischem Blick auf die „rasante Verbreitung der Schönheitschirurgie, des Body-Sculpting, der Sexualchirurgie, des Body-Modelling“ et cetera und mit Rekurs auf Naomi Wolf und Michel Foucault zu lesen: „Der Mythos Schönheit fungiert, wie man heute formulieren würde, als biopolitisches Machtdispositiv; diese an den einzelnen Individuen und ihren Körpern ansetzende Anordnung und Ausübung der Macht verändert und intensiviert den Bereich der Arbeit, indem er die ‚permanente Arbeit an der eigenen Person als Schlüssel zum Erfolg‘ verspricht. Wie Foucault am Beispiel der Geschichte der Sexualität exemplarisch formulierte, hat dieses neue Dispositiv ‚seine Daseinsberechtigung […] darin, daß es die Körper immer detaillierter vermehrt, erneuert, zusammenschließt, erfindet, durchdringt, und daß es die Bevölkerungen immer globaler kontrolliert.‘ In eben diese Richtung wirkt der von Wolf analysierte Schönheitsmythos“.

Uneins sind sich die Beiträge indes nicht allein hinsichtlich der Diagnose (und einer eventuellen Therapie) des pandemisch grassierenden Schönheitskults, sondern bereits hinsichtlich der Anamnese: Dominiert, wie Mitherausgeber Thomas Macho in einer „kurzen Geschichte des Models“ es sieht, global ein androgyner Schönheitstyp, oder ist die Weiblichkeit schöngerundet wiedergekehrt, wie die Mode-Fachfrau Stefanie Schütte („Körperkorsett – Korsettkörper“) es beobachtet? Setzt sich also etwa wieder auch optisch die alte Anschauung durch, die Schöpfung sehe den Menschen als Mann und Frau vor?

Für die naturwissenschaftliche Sicht auf die Frage der Schönheit des Lebewesens Mensch scheint der Sexualdimorphismus ohnehin eine conditio sine qua non zu sein. Winfried Menninghaus („Biologie nach der Mode. Charles Darwins Ornament-Ästhetik“) betrachtet die nackte Haut als eine „Meisterleistung der sexuellen Selektion“, die mittels evolutionärer Hervorbringung dieses Merkmals die Menschwerdung entscheidend vorangetrieben habe. Es sei wohl statthaft, mit Darwin für wahrscheinlich zu halten, dass „die extreme Mutation vom fast vollständig behaarten Affen zum fast vollständig ‚nackten‘ Menschen auch ein ästhetischer runaway-Prozess ist, der von sexuellen Aussehenspräferenzen angetrieben ist.“

Anschließend offeriert Bettina Bock von Wülfingen („Schöne Gene!“) einen Befund, der Verfechter der Kalokagathie wie der alteuropäischen Physiognomik aufhorchen lassen dürfte: Gemäß der „genetischen Schönheitsforschung“ gibt es für äußere Attraktivität und „innere Güte“ zugleich ursächliche Erbanlagen. Sofern wir demnach nun ein – größeres oder geringeres – Quantum an Schöngutheit als natürliche Mitgift in uns tragen, bleibt uns, wollen wir nicht das biologische Erbe als letztes Maß des Menschenwerts hinnehmen, wieder nur der Weg der Selbstkultivierung.

„Ästhetische Erziehung“ im prägnanten Sinn also und nicht angestrengte Arbeit am Körper. Kristina Bonn erinnert in ihrer Dissertation daran, dass Frauenschönheit dem männlichen Blick einmal auch etwas anderes bedeuten wollte als den Stimulus zur Ausschüttung von Sexualhormonen. Am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings „Emilia Galotti“, Goethes „Iphigenie auf Tauris“ und Friedrich Schillers „Maria Stuart“ arbeitet sie heraus, wie das bürgerliche Drama des 19. Jahrhunderts das Schöne in weiblicher Gestalt als Movens der Humanisierung auf die Bühne brachte. Man wird nicht unbedingt sagen wollen, dass Kristina Bonns Buch schön ist, aber es ist gut, was wiederum schön ist.

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Kristina Bonn: Vom Schönen. Schönheitskonzeptionen bei Lessing, Goethe und Schiller.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
211 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895286841

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Titelbild

Thomas Macho / Sigrid Walther / Gisela Staupe (Hg.): Was ist schön? Begleitbuch zur Ausstellung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
224 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306424

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