„Manchmal bin ich gerne allein“

Max Frischs drittes Tagebuch hat vor seiner Publikation zu Streit geführt – und präsentiert sich dem Leser nun weder so unausgereift wie befürchtet noch so sensationell wie erhofft

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn im Zusammenhang mit Max Frisch (1911-1991) der Begriff des Tagebuchs verwendet wird, so sind damit literarische Unternehmungen ganz eigener Art gemeint. Wenig verbindet diese Projekte – von denen es mit dem vorliegenden, vom Zürcher Germanisten Peter von Matt 19 Jahre nach dem Tode des Autors edierten Band nun insgesamt drei gibt: das „Tagebuch 1946-1949“ (1950), das „Tagebuch 1966-1971“ (1972) und eben die „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ (2010) – mit den vielen mehr oder weniger penibel an einem (Lebens-) Zeitstrahl sich entlangarbeitenden, das persönliche Wohl und Wehe des Diaristen in die Schicksale der Welt einflechtenden Aufzeichnungen bekannter Persönlichkeiten, die in der Regel unter der Genrebezeichnung „Tagebuch“ veröffentlicht werden. Was die drei Bände als diesem klassischen, seit der Zeit der Renaissance in Europa gepflegten Tagebuchverständnis nicht verpflichtet ausweist, ist dabei keineswegs nur ihr fast vollständig fehlender Agendacharakter. Viel auffälliger noch ist, wie Frisch diese Notizenkonvolute dazu benutzte, skizzenhaft Keimzellen späterer Werke festzuhalten und mit den unterschiedlichsten neuen Formen zu experimentieren. So finden sich einerseits in seinem ersten, 1950 veröffentlichten Tagebuch all jene Stücke als Prosaentwürfe vorgeformt, die seinen Ruf als Bühnenautor im darauf folgenden Jahrzehnt erst recht eigentlich begründen sollten. Andererseits wartet vor allem das „Tagebuch 1966-1971“ mit einer Formenfülle zwischen Selbstverhör und Erzählskizze auf, die es nahelegte, einzelne Teile aus dem Ganzen herauszunehmen und separat zu publizieren. Der Erfolg der berühmten Fragebögen zum Beispiel wäre wahrscheinlich geringer ausgefallen, hätte man sie nicht aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und ihnen durch eben diese Separierung den Anschein eines singulären literarischen Werks gegeben. Allein dass dies möglich (und verlegerisch von Erfolg gekrönt) war, rechtfertigt die Sonderstellung von Frischs Diarien und den inzwischen eingebürgerten Begriff des „literarischen Tagebuchs“ in Bezug auf eine Textsorte, die der Autor selbst für die seinem schriftstellerischen Temperament angemessenste hielt.

Nun also ein drittes Tagebuch aus der Feder eines der beiden „Dioskuren“ der schweizerdeutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, oder, wie der Titel eher vorsichtig formuliert, Entwürfe zu einem solchen. Und praktisch vom ersten Bekanntwerden der Nachricht, dass gut einhundertachtzig Typoskriptseiten mit tagebuchähnlichen Aufzeichnungen Frischs aufgetaucht seien und von Peter von Matt für die Edition in Frischs deutschem Hausverlag Suhrkamp vorbereitet würden, war Streit in der Welt. Denn das Handexemplar Frischs, das, wie von Matts „Herausgeberbericht“ dokumentiert, 1983 noch im Besitz des Autors war, existiert inzwischen nicht mehr, wurde von ihm selbst also auch nicht in den Bestand des 1981 an der ETH Zürich begründeten Max-Frisch-Archivs gegeben. Was dort heute einsehbar ist, ist das Handmanuskript (also eine Art Doppel des Originals, wenn man so will) der langjährigen Privatsekretärin Frischs, Rosemarie Primault, aus deren Händen es vermutlich um 2001 in die Archivbestände wechselte. Das Schicksal des Originals selbst liegt im Dunklen. Vermutet werden aber darf, dass Frisch, der schon als junger Mann nicht zimperlich war, wenn es darum ging, Projekte zu beenden, die in seinen Augen missglückt waren, es vernichtet hat. Aus der Tatsache nun, dass diese Vernichtung nirgendwo schriftlich dokumentiert ist und es auch keine Anweisungen des Autors bezüglich des Doppels im Sekretariat gibt, von dem Peter von Matt annimmt, dass Frisch über seine Existenz im Bilde war, leitet der Herausgeber ab, dass er mit der kommentierten Publikation des von Frisch selbst so genannten „Tagebuch 3“ nicht gegen den ausdrücklichen Willen seines Verfassers verstößt.

Dieser Meinung freilich waren andere nicht. Sowohl Rosemarie Primault, die in der „Basler Zeitung“ von einem „Vertrauensbruch“ sprach und davon, dass der Text zu keinem Zeitpunkt von seinem Autor zur Veröffentlichung bestimmt war, als auch Walter Obschlager, erster Frisch-Archivar in Zürich, und schließlich – als prominentester Gegner – Adolf Muschg, wie auch von Matt 1979 von Frisch persönlich in den Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung gerufen, stellten sich gegen die Veröffentlichung. Verhindern freilich konnten sie sie nicht: Muschg verlor die Abstimmung innerhalb des Rats der Stiftung mit einer Stimme gegen vier und trat in der Folge des Eklats Ende 2009 aus dem Gremium aus. Dass der bis dahin interne Streit vor der endgültigen Publikation des Textes im Frühjahr 2010 über verschiedene Presseorgane in die Öffentlichkeit getragen wurde, veranlasste den Verlag schließlich, den Publikationstermin vorzuziehen, um dem Buch am Markt eine bessere Chance einzuräumen. Die von Peter von Matt so vollmundig annoncierte „Sensation“ freilich stellt es keineswegs dar, weshalb die Wellen, die Anfang des Jahres so gewaltig hochschlugen, sich inzwischen auch längst wieder im Sande des kulturellen Alltags verlaufen haben.

Verglichen mit den beiden Vorgängern sind die „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ mehr dem Zeitgeschehen verhaftet, literarisch nicht ganz so ergiebig und, was die im Vorfeld der Publikation erhofften Aufschlüsse über das „Innenleben“ eines der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts anfangs von dessen 1980er-Jahren – Stichworte: Reagan-Administration, Neutronenbombe, Falkland-Krieg, Libanon-Konflikt – betrifft, doch relativ enttäuschend. Über den latenten Anti-Amerikanismus Frischs – mit dem er sich kaum von anderen linksorientierten Autoren jener Zeit unterschied – geben andere Stellen in seinem Werk bereits Auskunft. Hier klingt es noch ein bisschen rauer – „Wie dieses Amerika mich ankotzt! LOVE IT OR LEAVE!“ –, vermag aber beileibe nicht zu überraschen. Auch die Schwierigkeiten in der Partnerschaft mit der aktuellen Lebensgefährtin – Alice Locke-Carey, die als Vorbild für die Gestalt der Lynn in dem autobiografischen Bekenntnistext „Montauk“ (1975) diente – glaubt man schon andernorts gelesen zu haben. Reflexionen über Partner- und Paarschaften sind sozusagen ein Standardbaustein von Frischs fiktiven Welten – man findet sie praktisch im Fundament aller seiner Werke. Dass sie sich nun zunehmend mit dem Themenkomplex „Potenz / Impotenz“ vermischen, wird auch niemand überraschen, der das bisher veröffentlichte Spätwerk kennt.

Zeitlich setzen die Aufzeichnungen 1982 ein. Der erste nachschlagbare Termin, den der Text erwähnt, ist der Karfreitag dieses Jahres. Zwanzig Seiten vor Ende der Notate wird dann festgehalten, dass man in New York nach einem „stille(n) Zank“ gemeinsam Weihnachten feiert – in Frischs Loft, den er von 1981 bis 1984 in der Prince Street besaß, unter einem „Weihnachtsbaum mit richtigen Kerzen“. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der Großteil der Notate bereits zu Papier gebracht sein. Die noch folgenden 15 Abschnitte enthalten gelegentliche Hinweise darauf, dass sie im Winter beziehungsweise Frühjahr 1983 niedergeschrieben wurden, also zu einem Zeitpunkt, als die Trennung von Frisch und Locke-Carey näherrückte, ja vielleicht bereits vollzogen war. Die poetische Vorstellung von einem „Lebensabendhaus“, wie Frisch sie auf den letzten Seiten seines Tagebuchs entwickelt, kommt jedenfalls ohne einen Partner aus. Das Ich auf den entsprechenden Seiten sieht sich lediglich noch in gelegentlichen Gesprächen mit bereits verstorbenen Familienangehörigen (dem Bruder Franz Frisch), Freunden (dem Zürcher Strafrechtler und Publizisten Peter Noll) und Kollegen (etwa mit dem „jungen“ Tschechow), also als Teil einer freundlichen Jenseitsvision.

Nur ein einziges Mal taucht auf den Seiten der „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ ein konkretes Datum auf. Es handelt sich um den 8. Oktober 1982. Frisch hat an diesem Tag zum letzten Mal seinen Freund Peter Noll besucht. Dann ist er nach New York geflogen, wo er aufgrund der Zeitverschiebung den Tod Nolls, der in die frühen Morgenstunden des 9.Oktober 1982 fällt, noch unter dem 8. des Monats festhält. Dass der Herausgeber des Tagebuchs in den in seine Verantwortung fallenden Anmerkungen einmal dieses richtige Datum nennt, an anderer Stelle das Frisch existenziell erschütternde Ereignis in den „September 1982“ legt, stellt eine vermeidbare Unstimmigkeit dar, die den genau Lesenden ärgert.

Wie für die großen Tagebuch-Projekte lässt sich auch für die Entwürfe ein Themenkatalog zusammenstellen, dem dann wiederum einzelne Textbausteine zugeordnet werden können. Es geht um Altern, Sterben und Tod, Freundschaft und Liebe, das Ende der Welt in einem denkbar gewordenen Atomkrieg mit unvorstellbaren Folgen und die Perversion einer Bombe, die nur den Menschen eliminiert „ohne Architektur zu beschädigen oder Industrie-Anlagen“. Seltener ist vom Schreiben die Rede, was einerseits verwundert, denn schließlich hat man es hier mit den Aufzeichnungen eines Schreiben als Lebenszweck Begreifenden zu tun, andererseits aber auch passt zu einem Autor, aus dessen Feder in den nach 1983 noch verbleibenden knapp acht Jahren bis zu seinem Tod am 4. April 1991 keine wesentlichen Werke mehr kamen. Der Eintrag „Ekel vor der Schreibmaschine“ mündet deshalb in die Frage: „Muss ich etwas zu sagen haben?“ Und ein bisschen an Hugo von Hofmannsthals berühmtes Diktum von den wie modrige Pilze im Munde zerfallenden Worten aus dem „Chandos“-Brief erinnert, was Frisch gleich auf den ersten Seiten seiner Aufzeichnungen festhält: „Was ist bloss mit den Wörtern los? Ich schüttle Sätze, wie man eine kaputte Uhr schüttelt, und nehme sie auseinander; darüber vergeht die Zeit, die sie nicht anzeigt.“ Unter diesen Voraussetzungen noch auf der Wirkungsmächtigkeit von Literatur zu bestehen, darauf, mit seinen Büchern den „Kindeskindern etwas mitzuteilen von seiner Zeit“, sich wie Jahrzehnte zuvor noch Bertolt Brecht an die „Nachgeborenen“ zu wenden mit Rat wie Warnung, scheint längst illusorisch geworden zu sein.

Was bleibt, sind die seltenen Momente von Glück in der Natur, die ewige Sehnsucht nach erfüllender Partnerschaft und deren Enttäuschung wieder und wieder – sowie die Erwartung von Transzendenz, in der sich eine als sinnentleert empfundene Gegenwart auflösen könnte in etwas jenseits von Reklame, Tourismus und Konsumgier Existierendes. Zu den schönsten Seiten der Publikation aber gehören jene, auf denen die Rede ist vom tätigen Sich-Kümmern und Bekümmern um den Lebensfreund Peter Noll. Sie bringen unausweichlich den Tod ins gedankliche Spiel samt der Unmöglichkeit, sich ein bevorstehendes Nichts ausmalen zu können. Allein die daraus in den letzten Notaten erwachsende Vision einer weißen Villa aus Holz, umgeben von Birken und Erlen und Nebel, versehen mit einer großen Bibliothek und einer Veranda mit Ausblick nach Norden dürfte das Erscheinen dieses kleinen Bändchens rechtfertigen.

Titelbild

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch.
Herausgegeben von Peter von Matt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
215 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421307

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